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Titel1616

1944 – nach dem 20. Juli  (Wernher S. Strasberg)

Am 16. September 1944 war im Völkischen Beobachter folgende Meldung zu lesen »Bei einem Terrorangriff auf die Umgebung Weimars am 28. August wurde auch das Konzentrationslager Buchenwald von zahlreichen Sprengbomben getroffen. Unter den ums Leben gekommenen Häftlingen befanden sich unter anderem die ehemaligen Reichstagsabgeordneten Breitscheid und Thälmann.«

 

Diese Meldung enthielt drei Lügen. Die erste Lüge: Der Luftangriff fand nicht am 28., sondern am 24. August statt. Die zweite Lüge: Er galt nicht dem Konzentrationslager, sondern den Rüstungsbetrieben und den SS-Gebäuden wie Kasernen, Garagen und SS-Führerhäusern. Die dritte Lüge: Rudolf Breitscheid (SPD) war Opfer des Luftangriffs, aber nicht Ernst Thälmann (KPD).

 

Rudolf Breitscheids Frau kam mit Brandwunden davon. Beide waren zusammen mit Prinzessin Mafalda, einer Tochter des italienischen Königs, in einer Sonderbaracke untergebracht. Häftlinge bargen Breitscheid und die beiden Frauen, gruben sie aus dem viel zu flachen Splittergraben. Rudolf Breitscheid war erstickt.

 

Der Mord an Thälmann hingegen war in einem Gespräch zwischen Hitler und Himmler befohlen worden. Auf Himmlers Vorbereitungszettel für das Gespräch am 14. August 1944 heißt es unter der Ziffer 12 zu »Thälmann« mit anderer Tinte: »ist zu exekutieren«. Der Mord wurde in der Nacht vom 17. zum 18. August 1944 im Krematorium des Konzentrationslagers Buchenwald ausgeführt.

 

Die Naziführung wusste, was sie tat. Nach dem Scheitern des Stauffenberg-Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden im Reichsgebiet mehr als 5000 Verdächtige und Gegner des Naziregimes aus allen Schichten des Volkes in Zuchthäuser und Konzentrationslager geschleppt und Hunderte von ihnen ermordet. Tatsachen, die bei den Gedenkfeierlichkeiten zum 20. Juli in der Bundesrepublik häufig übersehen werden. Nach der Ermordung Thälmanns am 18. August wurden am 28. August sieben Mitglieder einer von Robert Uhrig geleiteten Berliner Widerstandsgruppe linker Arbeiter hingerichtet. Am 18. September starben auf dem Schafott Bernhard Bästlein, Franz Jakob und Anton Saefkow, die längere Zeit den antifaschistischen Widerstandskampf linker Arbeiter, Intellektueller und mutiger bürgerlicher Kräfte in Deutschland geleitet hatten. Am 25. September wurden 17 linke Widerstandskämpfer, unter ihnen Beppo Römer, dem Scharfrichter übergeben. Am 11. Oktober erschoss ein Sonderkommando der SS im Konzentrationslager Sachsenhausen 24 deutsche Kommunisten, darunter Reichstags- beziehungsweise Landtagsabgeordnete wie Ernst Schneller, Mathias Thesen und Gustl Standtner, die schon seit 1933 von der Nazipolizei und der SS gefangen gehalten worden waren. Solche Beispiele verdeutlichen, worum es der Naziführung ging. Sie wollte Kräfte der Arbeiterbewegung und des fortschrittlichen Bürgertums und Adels ausrotten, die bei dem drohenden Zusammenbruch, der militärischen Niederlage ihres Regimes zu Potenzen eines demokratischen Neuaufbaus in Deutschland werden konnten.

 

Die Mörder blieben verschont, die Morde ungesühnt. Zu den dringend Tatverdächtigen gehörte ein ehemaliger SS-Stabsscharführer, der in Buchenwald das Exekutionskommando 99 führte. In dreieinhalb Jahren ermordete dieses Kommando 8.483 sowjetische Kriegsgefangene vor allem in der eigens errichteten Genickschussanlage.

 

Die zuständige Kölner Staatsanwaltschaft lehnte die Erhebung einer Anklage wegen Mordes an Thälmann gegen den erwähnten SS-Stabsscharführer 1974 mit dem Hinweis ab, dass »hinsichtlich der noch lebenden und ermittelten Beschuldigten Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist«.

 

Die Kölner Strafverfolgungsbehörde bestritt, dass Grausamkeit, Heimtücke oder niedrige Beweggründe vorgelegen hätten. Entsprechend Paragraph 211 Strafgesetzbuch seien die Tötungen nicht als Morde zu bewerten. In der Begründung heißt es, Thälmann sei nicht arglos gewesen, als er ins Krematorium Buchenwald geführt wurde; insofern scheide Heimtücke als Mordmerkmal aus. Da die Tötung durch vier Schüsse erfolgte, liege auch Grausamkeit nicht vor. Zudem sei das Handeln der Beschuldigten nicht von niedrigen Beweggründen getragen gewesen. Sie hatten offensichtlich nur einem Befehl Folge geleistet, »der durch den Führerbefehl legitimiert zu sein schien«. Die Anklagebehörde deutete den Mord in eine Beihilfe zu fremder Tat um.

 

Nebenbei noch eine aktuelle Bemerkung: Zu den Paragraphen 211 und 212 Mord und Totschlag im Strafgesetzbuch (s. auch »Was ist Mord?« von Ralph Dobrawa, Ossietzky 14/2014), die im Wesentlichen auf das Nazistrafrecht zurückgehen, hat der Deutsche Anwaltsverein (DAV) inzwischen konkrete Vorschläge für eine Reform vorgelegt. Es ist zu loben, dass Bundesjustizminister Heiko Maas die Initiative aufgegriffen hat, da der gegenwärtige Gesetzestext nicht den Tatbestand in den Mittelpunkt der Rechtsprechung stelle, sondern die Persönlichkeit und die Motive des Täters. Allerdings ist Zeitungsmeldungen zu entnehmen, dass Bayern und andere Länder mit unionsgeführten Justizministerien die Pläne von Maas blockieren wollen.

 

Der Autor dieses Artikels ist Anwalt in Berlin.