Politiker reden oft, laut oder leise, kurz oder lang, interessant oder langweilig, frei oder am Manuskript klebend, mit und ohne Pathos. In der Regel bleibt bei Dahingegangenen wie auch bei den noch unter uns Weilenden meist ein Satz, mit dem man sie in Verbindung bringt. Bei dem im März verstorbenen BRD-Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher genügte sogar ein am 30. September 1989 gesprochener Halbsatz: »Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, dass heute Ihre Ausreise ...« Der Jubelschrei der im Garten der BRD-Botschaft in Prag campierenden rund 4000 DDR-Wirtschaftsflüchtlinge unterbrach seine Mitteilung. Die wenigen Worte, mit denen der Fall der Berliner Mauer eingeleitet wurde, sind im Gedächtnis geblieben. Zu den vergangenen Mauerbau- und Mauerfall-Jahrestagen haben wir sie in Funk und Fernsehen unzählige Male gehört. Auch dieses Jahr werden wir uns am 13. August ein weiteres Mal an dem Halbsatz erfreuen können. Nahezu ebenso oft werden uns die voreiligen Worte »das tritt – nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich« in Erinnerung gebracht, und alle wissen, dass sie Günter Schabowski auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 herausstotterte und damit den Sturm auf den Grenzwall einläutete.
Aus der Vor-Mauer-Zeit ist ein anderer, im feinsten Leipziger Hochsächsisch gesprochener Satz in Erinnerung geblieben. Ausgesprochen hat ihn Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, am 15. Juni 1961. Gegen Ende einer internationalen Pressekonferenz bekam Annamarie Doherr, die Berlin-Korrespondentin der Frankfurter Rundschau das Wort: »Ich möchte eine Zusatzfrage stellen, Herr Vorsitzender! Bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?« Walter Ulbricht antwortete: »Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, und ihre Arbeitskraft voll eingesetzt wird.« Und nach kurzer Pause fügt er hinzu: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«
Berühmt-berüchtigt ist der letzte kurze Satz, der dem Publikum in Fernseh- und Rundfunkdokumentationen, in Multimediaausstellungen und Berichten in den Printmedien zu den Jahresjubiläen des Mauerfalls, aber auch dazwischen bis zum Erbrechen serviert wird: »Niemand hat die Absicht …« Die Absicht dieser permanenten Wiederholungen in den Leitmedien liegt auf der Hand: Mit ihnen soll nachgewiesen werden, dass der Ulbricht, der Spitzbart, nicht nur ein übler Diktator, sondern ein durchtriebener Lügenbold war. Er hatte die Pläne für den Bau der »Todes- und Schandmauer«, mit der das Ausbluten der DDR gestoppt und die »billigste Atombombe«, wie der damalige Regierende Bürgermeister Ernst Reuter Westberlin nannte, entschärft werden sollte, bereits im Panzerschrank. Aber stimmt das?
Bis zum heutigen Tag wird selbst in den Kreisen seiner engsten Mitarbeiter gerätselt, ob der DDR-Obere getäuscht hat, oder gab seine Auskunft zum damaligen Zeitpunkt seine tatsächliche Meinung wieder, die sich erst nach der weiteren raschen Zuspitzung der Lage änderte? Angenommen, er hätte tatsächlich geflunkert, was sollte er der wissbegierigen Journalistin denn antworten? Sollte er tatsächlich sagen, Westberlin wird in absehbarer Zeit eingemauert? Die so schon existenzgefährdende Massenabwanderung von DDR-Bürgern hätte sich schlagartig verstärkt.
Wer unvoreingenommen nach einer Antwort sucht, stößt auf historische Fakten, die nahelegen, dass Ulbricht Mitte Juni des Schicksalsjahres nicht gelogen hat. Zahlreiche Dokumente, darunter solche, die erst jetzt zugänglich wurden, bestätigen, dass die Entscheidung über eine Schließung der Grenze zu Westberlin selbstverständlich nicht im ZK der SED, sondern im Kreml getroffen wurde. Bereits am 4. Juli 1961 sandte der sowjetische Botschafter in der DDR, Michail Perwuchin, einen Bericht an seinen Außenminister Andrei Gromyko, in dem er feststellte, dass »bei einer Zuspitzung der politischen Lage geschlossene Grenzen notwendig werden könnten«. Deshalb sei es erforderlich, auch einen »Maßnahmeplan für den Fall der Einführung eines Staatsgrenzregimes an der Sektorengrenze« auszuarbeiten. Dabei ging er auch auf zahlreiche technische Probleme ein. (Perwuchin an Gromyko, 4.7.1961, AWPRF, Referentura po GDR, op. 6, por. 34, pap. 46)
Einen Monat später, am 1. August, führten Walter Ulbricht und Nikita Chruschtschow ein zweistündiges Telefongespräch, in dem der sowjetische Partei- und Regierungschef unter anderem ausführte: »Ich habe unseren Botschafter gebeten, Ihnen meinen Gedanken darzulegen, dass man die derzeitigen Spannungen mit dem Westen nutzen und einen eisernen Ring um Berlin legen sollte … Das ist leicht zu erklären: Man droht uns mit Krieg, und wir wollen nicht, dass man uns Spione schickt. Diese Begründung werden die Deutschen verstehen. Dann würden Sie im Interesse des Warschauer Vertrages handeln und nicht nur in Ihrem eigenen Interesse ... Ich bin der Meinung, den Ring sollten unsere Truppen legen, aber kontrollieren sollten Ihre Truppen … Wir müssen ein gemeinsames Kommuniqué veröffentlichen, wo die DDR im Interesse der sozialistischen Länder gebeten wird, die Grenze zu schließen. Dann machen Sie das auf unsere Bitte … Wir lassen Euch jetzt ein, zwei Wochen Zeit, damit Ihr Euch wirtschaftlich vorbereiten könnt. Dann beruft Ihr das Parlament ein und verkündet folgendes Kommuniqué: ›Ab morgen werden Posten errichtet und die Durchfahrt verboten. Wer passieren will, kann das nur mit Erlaubnis bestimmter Behörden der DDR tun.‹« (Gerhard Wettig (Hg.): »Chruschtschows Westpolitik«, Band 3, S. 295–313, Oldenbourg Verlag)
Die Entscheidung war gefallen. Den Auftrag, den taktischen Plan auszuarbeiten und die Grenzlinie zwischen beiden Teilen Berlins festzulegen, erhielt General Anatoli Mereschko, stellvertretender Chef des Stabes der Sowjettruppen in Wünsdorf, 40 Kilometer von Berlin entfernt. Er plante die Aufstellung des Stacheldrahtzauns und die Orte der Grenzübergänge. Mit dem Plan reiste der General am 7. August nach Moskau. Chruschtschow stimmte dem Plan zu. Am 10. August wurden der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann und Innenminister Karl Maron im Stab der sowjetischen Truppen informiert. Mereschko präsentierte ihnen seinen Plan. Der Befehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland, Marschall Iwan Konew, telefonierte mit Chruschtschow und informierte ihn über das Gespräch mit den DDR-Ministern. Unmittelbar danach wurde der Zeitpunkt für die Grenzschließung festgelegt: Sonntag, der 13. August. (de.sputniknews.com).
Während der gesamten Vorbereitung der Grenzschließung wurde von keiner Seite vom Bau einer Mauer gesprochen. Sie wurde erst dann gebaut, als sich herausstellte, dass Stacheldraht allein nicht ausreichte, um die Grenze undurchlässig zu machen. Offenkundig hatte Ulbricht nicht gelogen, als er den ungezählte Male zitierten Satz: »Niemand hat die Absicht …« aussprach. Das allerdings wird die DDR-Auf-und-Umarbeiter nicht daran hindern, ihn auch zukünftig als Beweis für die Lügenhaftigkeit der ostdeutschen Gewaltherrscher zu nutzen.
Den zutiefst demokratischen bundesdeutschen Repräsentanten käme es niemals in den Sinn zu lügen. Na ja, es gibt eine Ausnahme, die nur die Regel bestätigt: die unvergessliche Erklärung von Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Barschel, der kurz vor seinem Tod 1987 beteuerte: »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe haltlos sind.« Aber das war’s denn auch schon. Als Bundeskanzler Kohl am 1. Juli 1990 in seiner Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR versicherte: »Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt«, log er nicht, er irrte nur. Als Bundesarbeitsminister Blüm 1986 und später immer aufs Neue erklärte »Die Rente ist sicher«, verbreitete er keine Lüge; er konnte nur nicht ahnen, dass seine Partei, die CDU, und die SPD beschließen würden, das Rentenniveau auf 43 Prozent des Durchschnittslohnes abzusenken. Als am 24. März 1999 im italienischen Piacenza bundesdeutsche Tornados starteten, um an der Spitze der NATO-Kampfgeschwader Jugoslawien anzugreifen, schwindelte Bundeskanzler Schröder nicht dumm-dreist, er formulierte nur ein kleinwenig ungenau: »Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.« Und wie verhält sich unsere durch und durch ehrliche Haut, die Bundeskanzlerin? Frau Merkel verspricht in jedem Wahlkampf und in jeder Koalitionsvereinbarung ein gerechteres und einfacheres Steuersystem. Aber die Bundesbürger warten noch heute darauf.
Es ist eine Binsenweisheit: Keiner der ehrenwerten bundesdeutschen Großköpfigen hat die Absicht, das Volk zu belügen. Aber nehmen sie es etwa zuweilen mit der Wahrheit nicht so genau? Nicht doch! Sie sagen die Wahrheit, dass sich die Balken biegen.