Bier
Als Bierstadt hat München nicht nur ein Bier- und Oktoberfestmuseum, das vor allem die Münchner Bierbarone feiert, die Gründer der heute noch bestehenden Großbrauereien. Mittlerweile gehören sie allerdings zu belgischen und niederländischen Konzernen, und der durchschnittliche Münchner trinkt nicht einmal mehr die Hälfte der 310 Liter, die er noch 1910 stemmte.
Trotzdem sind weiterhin Bier und München im In- und Ausland eng miteinander verbunden, nicht zuletzt eine Folge der geschickten Vermarktung der Brauereien wie die Ausstellung »Bier.Macht.München« im Münchner Stadtmuseum zeigt. Der Anlass – 500 Jahre Reinheitsgebot – trifft zwar nicht so ganz zu, denn das erste Reinheitsgebot wurde bereits 1487 erlassen und sah als Bierbestandteile nur Wasser, Gerste und Hopfen vor. (Die Hefe war noch nicht erfunden.) 1516 wurde das Reinheitsgebot auf das damalige Herzogtum Bayern ausgedehnt.
Wie in der parallel stattfindenden Ausstellung im Jüdischen Museum »Bier ist der Wein dieses Landes. Jüdische Braugeschichten« deutlich wird, spielten Juden eine große Rolle. Nicht nur war die Mehrzahl der Hopfenhändler jüdisch, gegen große Widerstände gründete 1836 ein jüdischer Unternehmer eine Brauerei. Später hatte die größte in München – Löwenbräu – mit Hermann Schülein einen jüdischen Direktor. Er prägte mit »Rheingold« in den fünfziger Jahren den US-Biergeschmack.
Auch Münchens Bierkrüge wurden nach der bayerischen Gewerbefreiheit 1868 zu einem erheblichen Teil von jüdischen Unternehmern durch Bilder, Schriftzüge und Deckel veredelt. Spüren beide Ausstellungen detailliert den erfolgreichen Unternehmern nach, bleiben die Arbeiter im Halbdunkel. Zwar gibt es Belegschaftsfotos und Hinweise auf die schwierigen Arbeitsbedingungen etwa der Kellnerinnen, aber der Alltag der abhängig Beschäftigten wird weitgehend ausgeblendet.
Zu der in München ausgeprägten Verbindung von Bier und Politik gibt es zwar Hinweise auf die im Mathäser-Bräu gegründete Räterepublik und auf Hitlers »Beer Hall Putsch« 1923, aber auf die heutigen Einflüsse wird kaum eingegangen. Trotzdem zwei sehenswerte Ausstellungen, die in benachbarten Museen stattfinden.
Peter Bräunlein
»Bier.Macht.München«, Münchner Stadtmuseum, St.-Jakobs-Platz 1, 80331 München; »Bier ist der Wein dieses Landes. Jüdische Braugeschichten«, Jüdisches Museum, St.-Jakobs-Platz 16, 80331 München, beide bis 8.1.2017
Doppeldeutige Aufgabe
»Die Fotografien wurden durch Steigerung der Kontraste in reines Schwarz-Weiß aufgelöst – wie es oft mit lang zurückliegenden Aufnahmen geschieht, die unser Gedächtnis nur plakativ wachruft. Aufgabe der Erinnerung ist es, die Zwischentöne wieder herzustellen.« So steht’s ganz am Schluss des liebevoll gestalteten Büchleins »Die Aufgabe – Eine Tragikomödie«. Die Fotos betreffen die Jahre 1948 bis 1960.
Damals war der Dichter und Regisseur B. K. Tragelehn Meisterschüler bei Brecht. Nach einer Unbotmäßigkeit, also der klugen Inszenierung eines Heiner-Müller-Stückes, musste er sich »bei der Arbeiterklasse bewähren« und schloss ebenjenes hier gedruckte Stück ab. Nie wurde es aufgeführt, aber 30 Jahre nach der Entstehung in einer Literaturzeitschrift gedruckt.
Der Text, die – journalistischen – Verursacher des Textes und zwei Essays sind nun rechtzeitig zum 80. Geburtstag Tragelehns im 90-Seiten-Band vereint worden. In dem Stück geht es um Abrechnungsbetrug einer Baubrigade zwecks Planerfüllung, dem frühen Sozialismus immanente Kinderkrankheit, die chronisch wurde. Die Lösung ist zunächst Aufgabe der Beteiligten, es führt letztlich zur Aufgabe des Sozialismus. Friedrich Dieckmanns blitzgescheiter Essay dazu vergleicht die vierzig Jahre DDR mit einem Theater-Fünfakter samt Götz von Berlichingen. Herausgeber und Gestalter Jens-Fietje Dwars, der als Titelbild eine beschädigte 5-Pfennig-Briefmarke der DDR wählte, resümiert im Nachsatz über Stück, Aufstieg und Fall eines Staates: »Es gibt keine bessere Bestätigung der Marx’schen Theorie, als der Untergang des Systems, das ihn zu seinem Kirchenvater verklärt hatte.«
Matthias Biskupek
B. K. Tragelehn: »Die Aufgabe. Eine Tragikomödie mit Quellenanhang und einem Kommentar von Friedrich Dieckmann«, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jens-F. Dwars. Die Weiße Reihe Band 9. quartus Verlag Bucha bei Jena, 90 Seiten, 11,90 €, ISBN 978-3-943768-64-0
Unsere Zustände
Die Deutschen hegen ihre Kultur wie Zugabteile Erster Klasse. Die sind schön anzusehen, werden aber kaum benutzt.
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Sogenannte Ehrenmänner mit schwarzen Flecken auf der weißen Weste wünschen sich nichts sehnlicher als eine schwarze Weste.
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Ein Gieriger nimmt auch noch einem Bettler das Letzte vom Teller.
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Zu den Hintern einflussreicher Persönlichkeiten ist ein derartiges Gedrängel, dass ein Schild angebracht wäre: Bitte einzeln einkriechen!
Wolfgang Eckert
Spaßtöter Google
Man will es einfach nicht glauben …, aber vorige Woche beim Treff mit ehemaligen Arbeitskollegen landeten wir irgendwann beim beliebten Thema Fußball. Und schließlich drehte sich alles um die Frage: Wann und gegen wen schied die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 1998 aus? Die bierselige Diskussion (Achtel- oder Viertelfinale? Argentinien oder Kroatien?) kam gerade so richtig in Gang, da zückte einer sein Smartphone und würgte mit der richtigen Antwort »Viertelfinale und Kroatien« abrupt unseren Stammtischdisput ab.
Einige Tage später bei einer Geburtstagsrunde beherrschte die Frage »In welchem Jahr hatte Helene Fischer eigentlich ihre Fernsehpremiere?« die Kaffeetafel. Es wurde heftig gestritten … bis jemand mit »2005« für Frieden unter der krakeelenden Verwandtschaft sorgte.
Das mag löblich sein. Aber ich finde es geradezu nervend und lästig, wenn jedes Streitgespräch ein jähes Ende findet, weil jemand sein Smartphone aus der Tasche holt, schnell einmal bei Google nachschlägt und dann lauthals die richtige Lösung verkündet.
Es macht heute überhaupt keinen Spaß mehr, in einer Runde irgendein Thema anzufangen, das zur Diskussion herausfordern könnte – immer ist einer dabei, der heimlich mit Hilfe von diesen digitalen Besserwissern Google und Wikipedia die (vermeintlichen) Fakten und Daten auf den Tisch knallt. Was waren das doch für wunderbare Zeiten, als wir mit einer offenen Frage oder sogar im Streit auseinandergingen und hinterher tagelang brauchten, um die Antwort zu finden.
Manfred Orlick
Wagenbach im Nahverkehr
Erst jetzt, leider, ist mir ein ganz und gar außergewöhnliches Büchlein in die Hände geraten: »Störung im Betriebsablauf – 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr – gesammelt von Klaus Wagenbach«. Es sind nicht nur kurze Geschichten, sondern kürzeste und noch kürzere. Manche fast nicht länger als eine Anekdote. Wagenbach hat seine Fundstücke in Gruppen geordnet:
Auf dem Bahnsteig – Kürzeststrecken – Unterbrechung: Fahrscheinkontrolle – Kurzstrecken Fortsetzung – Zwei Stationen – Drei Stationen. Oder: Halt auf freier Strecke – Überland. Um dem Leser eine besondere Spannung zu liefern, hat er den Texten den Namen von Autorin oder Autor versagt. So könnten zwei Personen die Texte zusammen lesen und zugleich die Herkunft erraten, empfiehlt Wagenbach. Wer die Mehrzahl der Schöpfer der Texte erkennt, hat gewonnen. Im Anhang werden sie selbstverständlich angeführt, genauso wie die Quellen. Am Anfang des Büchleins stehen zwei Prager. Als Vorwort gewissermaßen eine Kurzgeschichte von Franz Kafka in originaler Schriftgröße und Typographie der Erstausgabe. (»Ein Landarzt«, 1919). Und das Motto lieferte Egon Erwin Kisch: »Die Untergrundbahn ist ein wesentliches Kennzeichen der Großstadt. Oben auf der Straße ist kein Platz mehr für die Menschen.«
Das gute Stück hat 144 Seiten, kommt in schlanker Klappenbroschur daher und kostet 9,90 Euro.
Klaus Haupt
Walter Kaufmanns Lektüre
Der Klappentext bringt es knapp und bündig: »Als Lieutenant Philip Bowman aus dem Pazifischen Krieg zurückkehrt, liegt das Leben endlich vor ihm. Er studiert, heuert bei einer Theaterzeitschrift an, beginnt für einen Verlag Manuskripte zu lesen …, er diniert mit Schriftstellern, und er lernt Vivian kennen, das schöne unnahbare Mädchen …« Im Roman zerfließt dieser Ablauf. James Salter, der einst fesselnde Bücher schrieb, »Lichtjahre«, »Ein Spiel und ein Zeitvertreib«, »Verbrannte Tage«, bleibt unter seinem Niveau. Philip Bowman überzeugt nicht. Ein einstiger Marineoffizier? Echt nur wirkt das Kriegsgeschehen, dem er ausgesetzt war, die Seenot, aus er sich hat retten können, der Schiffsuntergang im Bombenhagel, das aufgewühlte Meer, das den Überlebenden zum Verhängnis wird. Philip Bowman, der diesem Inferno entronnen ist, passt sich ins Zivilleben von New York ein, als hätte er den Untergang seines Schiffes nie erlebt, die Todesängste der Ertrinkenden nicht und nicht die an die Strände gespülten aufgeblähten Leichen sehen müssen. Anscheinend körperlich und seelisch in bester Verfassung, lebt er in den Tag, und wenig glaubhaft ist sein spätes Bekenntnis, dass ihm nichts je bedeutsamer war als der Krieg und seine Zeit zur See. Seine Berufswahl überzeugt nicht – bei ihm ist weder Liebe zur Literatur zu erkennen, noch scheint er als Lektor irgendwelchen Einfluss auf Schriftsteller zu haben. Man fragt sich, wie er diese Vivian Amussen zu gewinnen vermochte, zumal deren Vater völlig unbeeindruckt von ihm blieb und die Liaison nie billigte. Es scheint gegeben, dass die Ehe bald zerbricht und Vivian zurück ins wohlhabende Elternhaus flieht. Ihre Liebe ging Bowman verloren, die Ehe ist ihm entglitten, und allmählich entgleitet ihm auch seine Existenz. Was ihm bleibt sind die Erinnerungen an diverse Liebesbeziehungen, die James Salter detailbesessen mit einer gewissen Altersgeilheit beschreibt. Frauen kommen und gehen in Philip Bowmans Leben – er betrügt und wird betrogen. »Er hatte am Nachmittag im Garten Unkraut gejätet und als er an sich herunterblickte, unter seinen Tennisshorts ein paar Beine gesehen, die, wie es schien, einem alten Mann gehörten. Er durfte, wenn Ann im Haus war, nicht in solchen Shorts herumlaufen …« Als er wenig später eben diese Ann, die letzte Frau in seinem Leben, fragt, ob sie nicht gemeinsam New York verlassen und nach Venedig aufbrechen sollten, entgegnet Ann: »Meinst du wirklich?« »Ja«, antwortet Bowman wenig überzeugend, »lass uns im November fahren. Es wird großartig werden.« Und so endet der Roman über ein Leben, das über weite Strecken ziellos war und letztlich nur die müde Hoffnung auf ein fernes Venedig lässt.
W. K.
James Salter: »Alles, was ist«, aus dem Englischen von Beatrice Howeg, Berlin Verlag, 367 Seiten, 22,99 €
Peter Hacks
»Ich hoff, die Menschheit schafft es« – welch schöner, hoffnungsvoller Satz, abgefasst im vierhebigen Jambus – angesichts der Gefahren, die für die Zivilisation bestehen und die sich, seit Peter Hacks 2003 verstarb, noch potenziert haben. Dieser Satz gab den Titel für die umfassende Hacks-Biografie von Jochanan Trilse-Finkelstein. Er ist Hacks‘ Ballade »Geistergeburtstag« entnommen, die sich auf Hegel und Goethe bezieht.
Das Buch von JTF, der bereits 1980 eine Hacksmonografie vorgelegt hatte, die das Spätwerk des Autors nicht umfasste, ist in zwei Teile gegliedert: Leben und Werk.
Der biografische Teil stellt Kindheit und Familie von Hacks vor, berührt die Zeit in Breslau, München und Berlin und dem Ferienort Rangsdorf. Es werden das Gesellschaftsleben von Hacks und die vielen Diskurse dargestellt, an denen sich Hacks persönlich sowie durch seinen umfangreichen Schriftwechsel beteiligt hatte. Dazu gehört vor allem der Literaturstreit mit Kollegen wie etwa Heiner Müller sowie die Korrespondenz mit dem Freund André Müller.
Im zweiten Teil der Biografie wird das Werk in seinem Entstehen und seinen Ergebnissen dargestellt. Er umfasst seine theoretischen Schriften, Arbeiten zur Kunsttheorie und Ästhetik, seine Arbeiten als Lyriker (Lieder zu Stücken, Gesellschaftsverse, Liebesgedichte), die Werke des Kinderbuchautors und Erzählers (»Der Schuhu«, »Magister Knauerhase«) und vor allem das dramatische Werk von 40 Stücken, beginnend mit »Geschichte eines Wittibers im Jahre 1637« über die »Olympischen Komödien« (»Amphitryon«, »Omphale«, »Numa«) bis zum »Bischof von China«. Es folgt eine Nachrede, die die Teile des Werkes zueinander wie zur Biografie des Autors ins Verhältnis setzt.
Die Hauptthemen von Hacks werden vom Verfasser dargestellt sowie im Verhältnis zur Zeitgeschichte beleuchtet – es sind Themen wie Systemauseinandersetzung, Auseinandersetzung mit sozialistischer Realität, Thesen zu Kunst und Ästhetik und zu Hacks‘ eigener Kunst, Erprobung von Modellen in der Dramatik, Diskussion des Klassikbegriffes, die Auseinandersetzung mit dem Erbe Brechts, mit Shakespeare und Racine etwa und mit der Rezeption Goethes, die Hacks im Sinne eines produktiven Erbeprozesses begriffen hatte. Trilse-Finkelstein thematisiert Methoden und Lösungsvorschläge in der Nachfolge Brechts anhand ihrer Darstellungen in anderen literarisch-historiographischen Werken, etwa bei Werner Mittenzwei.
Hacks selbst sah sich als Klassiker des Sozialismus, womit er für sich Recht hatte. Wohl aber ist eine neue klassische Periode der Kunst, ausgehend von einer sozialistischen Gesellschaft, nicht entstanden, wenngleich Hacks ebenso wie sein Biograf die Bedeutung gesellschaftlicher Grundlagen und Phasen von Gesellschaften für die Erschaffung und Kommunikation von Kunst herausarbeiten.
Mit der ausführlichen Kommentierung der Hacksschen Werke, der genauen Kenntnis der Inszenierungen – es waren letztlich mehr als 1000 – und der übersichtlichen Gliederung des Stoffes ist ein Grundlagenwerk zum Autor Peter Hacks geschaffen worden.
Außerdem enthält das Werk ein gründliches Literaturverzeichnis (Quellen und Texte) sowie eine nicht überfrachtete Bibliographie (Sekundärliteratur). Zwei Register stützen das Buch und erleichtern das Lesen.
Das Buch wurde in seinem Entstehen vom Araki Verlag unter Leitung von Georg Dehn aufmerksam begleitet, detailliert von Kerstin Marklowsky lektoriert und ist ästhetisch ansprechend ausgestattet. Der Verlag plant nach gutem Abverkauf der ersten Auflage eine zweite in Broschurausstattung.
Barbara Roca
Jochanan Trilse-Finkelstein: »Ich hoff, die Menschheit schafft es. Peter Hacks – Leben und Werk«, Araki Verlag, 560 Seiten, 49,90 €
Für alle, die sich bemüht haben
Alle waren sie Eisenbahner, im Dienste der Ferrovie dello Stato, der Staatlichen Eisenbahnen: die Urgroßväter väterlicher- und mütterlicherseits, der Großvater, der Vater. Nur der Sohn, unser Erzähler, schlug »aus der Art«, studierte, wurde Literaturwissenschaftler, schrieb wissenschaftliche Werke und Romane. Dies ist sein dritter; er erschien 2010 in dem berühmten Turiner Verlag Einaudi und in diesem Frühjahr erstmals auf Deutsch in der edition.fotoTAPETA, Berlin, einem »Verlag, der Geschichte erzählt«, wie er über sich sagt.
Der Vater war Aktivist in der Gewerkschaft der Eisenbahner und Sozialist. In dieser Beziehung schlug der Sohn trotz Studiums nicht »aus der Art«: Er wurde Mitglied der ehemals mächtigen Kommunistischen Partei Italiens (KPI) und Chefredakteur der Parteizeitschrift Rinascitá.
Alberto Asor Rosa, 1933 in Rom geboren, hat die Geschichte »einfacher Leute« aufgeschrieben, die seiner Familie, seiner Eltern. Aber was sind das für Menschen, diese sogenannten kleinen Leute, und was ist das, »das einfache Leben«? Sind das Menschen, die, wie in Ernst Wiecherts gleichnamigem Buch, in schlichter Arbeit ihr Glück suchen? Nein, dies ist ein Buch über Menschen, die Geschichte geschrieben haben, auch wenn in den Büchern der üblichen Geschichtsschreiber nicht ihre Namen stehen, sondern nur die von Königen (danke B. B.), so, als hätte es sie, »die anderen« (Rosa), nie gegeben.
Über ein Jahrhundert spannt Rosa den Faden der Familiengeschichte, bis zum Tode der Eltern in den 1970/80er Jahren. Und dieser romanhafte Bericht aus dem Alltag der eigenen Familie wird zu einem Abriss der Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, handelt er doch auch von den vielen Auseinandersetzungen in dieser Epoche: von den Kämpfen gegen die Herrschaft Österreichs am Anfang des Jahrhunderts, vom Marsch der Faschisten auf Rom bis zum Ende des »Ventennio«, ihrer zwanzig Herrschaftsjahre, von den Kämpfen gegen die deutsche Besatzung und dem Massaker in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom, wo auf Befehl deutscher Offiziere 1944 im März 335 Zivilisten erschossen wurden. Und von der Aufbauarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den politischen Auseinandersetzungen.
In einem schon 1985 erschienenen und dem Buch vorangestellten Essay, »Der Staub der einfachen Leute« genannt, schrieb Rosa: »Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, sich zu fragen und zu erfahren, was im Zentrum der Welt liegt, in der wir leben, wer genau diese riesige Masse von Unseresgleichen ausmacht. Gibt es, wie es den Anschein hat, wirklich eine unendliche Vielzahl von Geschichten ohne Geschichte von austauschbaren und völlig gleichwertigen Wesen? Gibt es also im Zentrum unserer Zivilisation eine menschliche Welt, die wie ein riesiges Loch bar jeder Bedeutung und nur als statistische Größe erfassbar ist?«
Das Buch trägt eine Widmung: »Für meinen Vater und meine Mutter«. Das war zu erwarten. Die Fortsetzung steht auf der nächsten Seite: »… und für alle, die sich bemüht haben, Männer wie Frauen (und Kinder).«
Klaus Nilius
Alberto Asor Rosa: »Allessandro und Assunta«, aus dem Italienischen von Andreas Rostek, edition.fotoTAPETA, 160 Seiten, 16,80 €
Zuschrift an die Lokalpresse
In der Ostthüringer Zeitung vom vorletzten Juli-Wochenende wurde darüber berichtet, dass sich die Eiche, »der deutscheste aller Bäume«, vom Eichen-Prozessionsspinner weitgehend erholt hat. Das is doch scheen, gelle? Dass die Eiche »der deutscheste aller Bäume« ist, war mir nicht ganz neu. Nicht zufällig tragen viele Landgaststätten den Ehrennamen »Zur deutschen Eiche«, und Würdigungen verdienter Zeitgenossen und Epauletten höherer Dienstgrade werden mit Eichenlaub umrankt. Und dass der Rhein »der deutscheste aller Flüsse« ist, wurde schon von unseren Altvorderen hervorgehoben, vor allem, wenn es um den nachbarlichen ehemaligen »Erzfeind« ging. Jetzt frage ich mich aber, ob man die offensichtlich deutscheste aller Würdigungen auch auf andere Bereiche übertragen kann, zum Beispiel auf Lebensmittel. Seinerzeit hatte ja bereits Tucholsky seine deutschen Landsleute dazu aufgefordert, nur deutsche Zitro-nen zu kaufen. Könnte man damit leben, dass Feinschmecker die ungarische Salami als »die deutscheste aller Dauerwürste« oder den regionalen Thüringer Kloß als »die deutscheste aller Kartoffeln« ehren? Und wo leben »die deutschesten aller Deutschen«? In 15711 Deutsch-Wusterhausen? In 09548 Deutsch-Neudorf? Oder in 29413 Deutschhorst? Kommen die dort beheimateten Landsleute analog zur deutschen Eiche besonders gut mit ihren Schädlingen klar? – Baldur Deutschländer (46), Praktikant, 09548 Deutsch-Einsiedel
Wolfgang Helfritsch