Es gibt Geschichten, die jeder kennt und damit vermeintlich auch den Sinn, der sich mit ihnen verbindet. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist so ein Beispiel, denn sie ist nicht nur aus der Bibel bekannt (1. Mose 11), sondern aus berühmten bildnerischen Darstellungen, vor allem von Pieter Brueghel, aber auch von Werner Tübke in seinem Bauernkriegspanoramabild. Und auch die Aussage ist scheinbar allen geläufig. Gott bestraft die Hybris der Menschen, die ihre Kräfte überschätzen und sich an seine Stelle setzen möchten. Er verwirrt ihre Sprache, damit sie sich nicht mehr verständigen können und ihren Plan aufgeben müssen.
Allerdings kann man das Handeln Gottes in dieser Geschichte auch anders, ja sogar gegensätzlich verstehen. Gott verwirrt die Sprache der Menschen und schafft so Vielfalt. Er schenkt ihnen die Freiheit, damit sie sich fortan nicht mehr an ihr eines monumentales Bauprojekt binden müssen, sondern entlastet von dannen gehen können. Gott befreit den Menschen aus seiner selbstgewählten Sklaverei. Vielfalt der Sprachen und des Wortes schafft also Freiheit!
Diesen Gedanken gilt es, endlich stärker hervorzuheben. Stimmt das denn mit der Befreiung, gibt der Text diese Deutung her? Dafür ist ein genauer Blick in den Bibeltext hilfreich. Im dritten Vers begegnet dem Leser nämlich eine sprachliche Figur, die wir mit heutigem Empfinden für poetische Sprache als unelegant und sogar störend empfinden. Eben aus diesem Grund übertragen die geläufigen Übersetzungen wie die Luther-Bibel oder die katholische Einheitsübersetzung diese Figur nicht wörtlich. Im Vers 3 heißt es aber wörtlich: »Wohlan, lasst uns Ziegel ziegeln.« Für die hebräische Bibel sind diese Doppelungen Ausdruck von hochwertigem Sprachvermögen, und sie tauchen an mehreren Stellen auf. Für die konkrete Doppelung der Ziegel gilt dies jedoch nicht. Sie taucht lediglich an zwei Stellen in der Bibel auf. Einmal in unserer Turmbauerzählung und ein zweites Mal in Exodus, dem 2. Buch Mose. Da heißt es im 5. Kapitel: »Und der Pharao befahl am gleichen Tag den Antreibern des Volkes und seinen Aufsehern: Ihr sollt dem Volk nicht mehr wie bisher Stroh liefern zum Ziegeln der Ziegel! Sie sollen selbst hingehen und sich Stroh sammeln! Aber ihr sollt ihnen dieselbe Anzahl Ziegel auferlegen, die sie bisher angefertigt haben […] Die Arbeit soll schwer auf den Männern lasten, damit sie daran zu schaffen haben und nicht auf trügerische Reden achten.«
Diese biblische Passage beschreibt die menschenunwürdige Situation der Sklaverei. Genau diese Sklaverei ist letztlich der Grund, warum das Volk Israel aus Ägypten flieht und durch die Wüste ins gelobte Land zieht. Die Sklaverei selbst jedoch wird bildlich durch das Streichen und Brennen der Ziegel symbolisiert. Eine harte, schweißtreibende Arbeit, die sich in dem Transport der Ziegel zu den Baustellen und deren Einpassen in die Monumentalbauten fortsetzt oder vielleicht sogar steigert. Man kann also sagen, dass es sich bei der Figur der Ziegel, die geziegelt werden sollen, um ein sprachliches Motiv handelt, das Sklaverei verkörpert.
Mit dem Wissen um diese sprachliche Figur erstrahlt die Turmbauerzählung in ganz anderem Licht, denn auch dort muss der Mensch »Ziegel ziegeln«. Er ermächtigt sich nicht nur in seiner eifernden Eitelkeit, er versklavt sich selbst durch das Ziel, die Unterscheidungen in Oben und Unten und Einheit und Vielfalt aufzuheben. Eben wirkt die Verwirrung der Sprache befreiend, keinesfalls als bloße Strafe.
Die Sprache des Menschen kommt von Gott, sagt die Bibel. Und eben diese Sprache ist das Mittel zu seiner Freiheit. So ist es bei der Turmbauerzählung, in der die Vielfalt der Sprache den Menschen aus selbstgewählter Sklaverei befreit.
Sprache macht frei von Sklaverei, das ist die eigentliche Botschaft der Turmbaugeschichte. Und weil Sprache und Denken so eng miteinander verbunden sind, denn wir denken ja in Begriffen, ist auch unser Denken frei. Es ist vielfältig wie die Vielfalt der Wörter.
Was sagt diese ganz andere Deutung nun für unser Leben aus? Zuerst einmal beschämt sie im Rückblick die Kirche, die in ihrer Geschichte, vor allem während der Inquisition, das Wort nicht einfach nur unterdrückt hat, sondern es blutig verfolgte. Dogmatische Erstarrung, eine einzige Sprache, wenn man im Bild der Turmbaugeschichte bleiben will, kostete unglaublich viele Menschen das Leben. Sie hielt ganze Länder wie Spanien oder Portugal nicht nur in ihrer Entwicklung auf, sondern warf sie weit zurück. Aber nicht nur neue Erkenntnisse hat sie damals verraten, neue Wahrheiten, sondern ihre eigene Wahrheit, wenn man ihr die Aussage der Turmbaugeschichte vor Augen hält.
Und heute? Wie wird denn heute umgegangen mit dem freien Wort in unserer Welt? Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, der denkt zwar an einen Täter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind prominent auf dieser Schreckensliste vertreten.
2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet. 19 weitere Schriftsteller wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber bei ihnen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.
Der internationale PEN versucht, sich gegen diesen Trend zu stemmen, er versucht, verfolgten Autoren zu helfen, sie aus den Gefängnissen zu befreien und die Meinungsfreiheit so gut es geht wieder durchzusetzen. Er folgt darin seiner eigenen Charta, keiner Religion, im Gegenteil, Toleranz ist sein wichtigster Ausgangspunkt, auch in puncto Religion. Trotzdem kann es nicht schaden, wenn alle, die sich in diesem Kampf engagieren, sich der Rückendeckung bewusst sind, die ihnen die christlich-jüdische Religion gibt. Die Turmbaugeschichte, richtig verstanden, gibt gute Argumente dafür.