Die alle fünf Jahre in Kassel stattfindende documenta gilt als weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Sie hatte immer auch einen aufklärerischen oder gar politischen Anspruch. Bei der documenta 14 in diesem Jahr wird er von ihren Macherinnen und Machern besonders betont. Sie versprechen nichts weniger, als aus dem Kunstraum einen Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu machen. Symbol dafür ist der zentral auf dem Friedrichsplatz aufgestellte »Parthenon der verbotenen Bücher«, der zugleich auf die »Wiege der Demokratie« in Athen – dem zweiten Ort der diesjährigen documenta – verweisen soll.
Aber hier schon zeigte sich bald der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Als jemand an diesem, dafür durchaus geeigneten Ort ein Schild hochhielt, mit dem er gegen die Rüstungsproduktion in Kassel protestieren wollte, erteilte ihm die Leitung der documenta einen Platzverweis. Der Kasseler katholische Dechant Harald Fischer schrieb daraufhin in einem offenen Brief: »Ich kann diesen Verweis […] nicht verstehen. Sie haben den ›denkenden Körper, der sich dem Machtapparat entgegenstellt‹ als ›Zeichen der Zeit‹ folgerichtig auf Ihre künstlerische Tagesordnung gesetzt. Es darf doch eigentlich nicht sein, dass ein Protest, der nach meinem Dafürhalten ganz auf Ihrer Linie liegt, keinen Platz in einem Kunstwerk hat, das die Tabuisierung von Gedankenwelten und das Verbot öffentlicher Rede darüber auf beeindruckende Weise zum Ausdruck bringt!« (Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 23.6.2017)
Nach einigem Zögern entschuldigte sich die documenta-Leitung bei dem des Platzes Verwiesenen und duldete einen »Spaziergang« des Kasseler Friedensforums zum und im »Parthenon«, bei dem Schilder mit Parolen gezeigt und Flugblätter verteilt wurden. Eine Besuchergruppe, die sich gerade mit dem Kunstwerk auseinandersetzte, nahm die Flugblätter und eine kurze Erklärung dazu etwas irritiert entgegen. Deren von der documenta für zehn Euro pro Person gestellte Leiterin ließ das locker zu und sagte, dass sie selbst immer in ihren Gruppen die Rolle der Rüstungsindustrie in Kassel kritisch thematisiere.
»Spaziergang« heißt diesmal auch das, was früher wie üblich Führung genannt wurde. Es soll um Partizipation und eine Einübung in Demokratie gehen. Im Text-Katalog zur d14 wird geradezu emphatisch als Ziel verkündet, dass aus bloßen Kunstkonsumenten aktiv Beteiligte werden: »Wir hoffen, dass kein Frontalunterricht stattfinden wird, egal wie oft man uns daran erinnert, dass ›viele Menschen, insbesondere Kinder und Senioren‹, sowie andere, als subaltern betrachtete, offenbar erwarten, dass ihnen erklärt wird, wie sie alles zu verstehen haben. Warum aber sollten nicht sie sprechen? Wir interessieren uns für das Wissen, das unser Publikum mitbringt – und das sich als Werkzeug für weiteres Verstehen begreifen lässt.« So der Chefkurator der documenta Adam Szymczyk.
In der Praxis sieht das dann oft etwas anders aus. Mangels Schulung in der Methode des Bilder- und Ausstellungsgesprächs verfallen diejenigen, die die »Spaziergänge« leiten, schnell und gern wieder ins Erklären und Interpretieren.
Ein Beispiel: In der Neuen Galerie gibt es eine Fotowand von Piotr Uklański mit dem Titel »Real Nazis«. Unter den 203 sehr unterschiedlichen Porträts aus der Nazizeit findet sich auch der junge Joseph Beuys als Luftwaffensoldat mit Funkerkappe. Er wird hier mit seiner im Kabinett nebenan (ständig) ausgestellten Installation »The pack (das Rudel)« von 1969 konfrontiert. Sie besteht aus einem alten, schon etwas angerosteten VW-Bus, aus dessen Inneren eine Reihe von Schlitten mit aufgeschnallten Filzrollen und großen Taschenlampen quillt.
Eine Besuchergruppe hätte hier die Chance, über verschiedene Fragen von Kunst und Politik oder über Joseph Beuys‘ Biographie und Werk zu sprechen. Das könnte etwas länger dauern, aber fruchtbar sein. Stattdessen gab in dem Fall, den wir miterlebten, die Leiterin die Richtung vor, indem sie ungefähr Folgendes sagte: Ja, auch Beuys sei nicht unfehlbar gewesen. Wer ohne Fehl sei, werfe den ersten Stein. Und eine Dame aus der Runde assistierte sofort: Wer damals gelebt habe ... Wer weiß, wie wir ... und so weiter und so fort. Das Lied, das hier gesungen wurde, war das alte Lied von den Verhältnissen und den Menschen, die eben so sind wie sie sind. Keine Frage, wie sich Kunst dazu stellt. Keine Frage, ob und inwieweit Beuys überhaupt Nazi war und wie er sich in seinem Werk mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Zu Beuys‘ Installation meinte die Leiterin, sie bedeute, dass wir, wenn uns einmal das Benzin für die Autos ausgehe, auf die alten Schlitten zurückgreifen könnten. Diese Botschaft von Beuys sei aktuell und werde von den Machern der diesjährigen documenta geschätzt.
Bei dem Bildergespräch, das wir mit einer Gruppe der KunstGesellschaft Frankfurt am Main in diesem Raum machten, hatte niemand derart angepasste oder reaktionäre Assoziationen.
Zum Lob der diesjährigen documenta können wir sagen, dass wir zum ersten Mal seit der seinerzeitigen Neuregelung für Besuchergruppen nicht vom Aufsichtspersonal gestoppt und nach unserer Legitimation gefragt wurden. Auf der letzten documenta hatten wir für unsere Aktivitäten noch eine »Schadensmeldung« geerntet, aus der aber dann nichts folgte.
Es gibt eine Kritik an der d14, die ihren politischen Anspruch beim Wort nimmt und beispielsweise fragt – wie wir es getan haben –, ob die in der Karlsaue aufgebaute »Blutmühle«, mit der die Ausbeutung von Indios beim Prägen von Silbermünzen veranschaulicht werden soll, in ihrer sauberen handwerklichen Ausführung nicht am Widerspruch zwischen Form und Inhalt scheitert. Ob die beiden ausgestellten zerborstenen Rümpfe von Flüchtlingsbooten, die zu großen Harfen umfunktioniert wurden, nicht eine angesichts so vieler Toter im Mittelmeer unangemessene Ästhetisierung des Leidens darstellen. Oder ob die auf dem Platz vor der documenta-Halle aufgestapelten Röhren mit ihrer wohnlichen Einrichtung tatsächlich vermitteln können, wie es sich anfühlt, wenn jemand auf der Flucht oder obdachlos in solchen Röhren übernachten muss. Auch die Begeisterung, mit der sie von vielen Besucherinnen und Besuchern abfotografiert werden, lässt daran zweifeln.
Es gibt aber eine andere Kritik von eher konservativer Seite. Ihr ist der politische Anspruch der d14 selbst zuwider. Zu wenig Kunst sei zu sehen, wird bemängelt. Stattdessen gut gemeinte Belehrung über die Schlechtigkeit der Welt und der herrschenden Zustände, für die es andere Medien gebe. Die ausgestellten Werke würden nur zur Illustration von Thesen gebraucht.
Ein tatsächlich bezeichnendes Beispiel dafür spießte das Kunstmagazin art auf: eine in der Neuen Galerie hängende Zeichnung von Gustave Courbet (1819 bis 1877) »Almosen eines Bettlers in Ornans« und deren Begleittext an der Wand. »Dort erfährt man Folgendes: ›Am ehesten‹ lasse sich diese Grafit-Zeichnung als ›Meditation über die Macht des Teilens und der Solidarität verstehen‹. Damit nehme Courbet ›die Dringlichkeit prophetisch vorweg, alternative Ökonomien zu erfinden und dem neoliberalen Würgegriff auf unsere menschliche Existenz zu entkommen‹...
Der belehrende Habitus, mit dem hier erklärt wird, wie man Courbets Werk ›am ehesten‹ zu verstehen habe, gehört ebenso zu den charakteristischen Merkmalen dieser Superschau wie die Fixiertheit auf moralische Kategorien: Hier die gute ›Solidarität‹, dort der böse ›Neoliberalismus‹.
Doch die Erläuterung zu Courbets vielschichtiger Skizze zeigt auch die Crux dieser Prediger-Haltung: Der gute Sinn verrutscht leicht ins bös Absurde. Oder wie wird sonst das Betteln zu einer Prophezeiung alternativer Ökonomien? Und wie könnte traurige Obdachlosigkeit ein politischer Weg sein, um aus dem ›neoliberalen Würgegriff‹ zu entkommen?«
Bei unserem Gespräch vor diesem Bild störten wir uns weniger am belehrenden Gestus des beigegebenen Textes als an dessen unhistorischer Begriffswahl. Statt vom »Neoliberalismus« hätte vom Kapitalismus gesprochen werden sollen, den Courbet nicht vorausahnen musste, weil er ihn bereits zu seiner Zeit erlebte. Die solidarische Geste auf Courbets Bild als Vorschein einer »alternativen Ökonomie« zu deuten, zeugt, darin waren wir uns einig, eher von Sozialromantik als von einem Verständnis unserer Wirtschaftsordnung.
Charakteristisch für den politischen Ansatz der documenta-Macherinnen und -Macher erscheint ein Text von Paul B. Preciado über das »Parlament der Körper« als Teil des Programms der Ausstellung: »Die Welt durchläuft einen Prozess der ›Gegenreform‹. Diese hat zum Ziel, die weiße männliche Vorherrschaft wiederherzustellen und demokratische Errungenschaften rückgängig zu machen, für die die Bewegungen von Arbeiter_innen, die antikolonialen, indigenen, ökologischen, feministischen, sexuellen und anti-psychiatrischen Bewegungen in den vergangenen zwei Jahrhunderten gekämpft haben. In diesem Kontext wird das Parlament der Körper zu einer Plattform des Aktivismus, der Allianzen und der Kooperation.
Nach acht Monaten mit Aktivitäten in Athen tagt das Parlament der Körper erstmals in Kassel und ruft zur Bildung einer antifaschistischen, transfeministischen und antirassistischen Koalition auf. Das Parlament der Körper richtet W. E. B. Du Bois’ Frage: ›Wie fühlt man sich als Problem?‹ als mögliche Interpellation an die ›99 Prozent‹ der Weltbevölkerung – unter Berücksichtigung des Prozesses, den der afrikanische Philosoph Achille Mbembé als das ›Schwarzwerden der Welt‹ beschrieben hat. Während das moderne koloniale und patriarchale Regime die ›Arbeiter_in‹, die ›Hausfrau‹, den ›Schwarzen‹, das ›Indigene‹ und den ›Homosexuellen‹ erfand, bringen heutige Regierungsmethoden neue Formen der Unterwerfung hervor: von kriminalisierten Muslim_innen bis zu Migrant_innen ohne Papiere, von prekär beschäftigten Arbeiter_innen bis zu Obdachlosen, von Menschen mit Behinderung und den Kranken als Konsument_innen der Industrie der Normalisierung zu sexualisierten Arbeiter_innen, zu Transsexuellen ohne Papiere.«
Die Schlussfolgerung daraus: »Wir haben keine gemeinsamen Identitäten, sondern wir sind mehr durch die verschiedenen Formen der Unterdrückung, Vertreibung und Enteignung miteinander verbunden als durch unsere Hautfarben, Geschlechter, Gender oder Sexualitäten. Das Parlament der Körper besteht nicht aus Identitäten, sondern aus kritischen Prozessen der Ent-Identifikation.«
Das richtet sich zweifellos zu Recht gegen die immer stärker aufkommenden Vorstellungen von ethnischer Identität und gesellschaftlicher Normalität. Ob es aber in seiner etwas verqueren Begrifflichkeit viele erreicht, ist die Frage. Und ob es mehr ist als ein auf gutwillige Mittelschichtler mit Multikulti-Orientierung zugeschnittenes und zielendes Programm, muss sich zeigen. Der Sprachgebrauch solcher Erklärungen lässt überdies vermuten, dass ihnen ein Denkmuster zugrunde liegt, nach dem die gesellschaftlichen Differenzierungen und Diskriminierungen eher durch die Macht und Manipulation der Eliten – dem »1 Prozent«, das den »99 Prozent« gegenübersteht – zustande kommen und nicht durch den Charakter der kapitalistischen Ökonomie selbst zumindest mitbedingt, wenn nicht bestimmt sind. Typisch auch, dass von »prekär beschäftigten Arbeiter_innen« die Rede ist, während die Ausbeutung im »Normalarbeitsverhältnis« gar nicht mehr zur Sprache kommt.
Vielleicht hat Ingeborg Ruthe am Schluss ihres ansonsten wohlwollenden Artikels über die diesjährige documenta in der Frankfurter Rundschau unabsichtlich den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie schrieb: »Sei diese 14. Doppel-documenta mit noch so viel antikapitalistischen Thesen beladen. Am Ende heißt es doch: Es lebe das Event.« (FR, 10./11. Juni 2017)