Über Martin Luther wollte ich nach einigen kritischen Aufsätzen (vgl. Ossietzky 12/2016, 1/2017 u. a.) eigentlich nichts mehr schreiben. Doch der Luther-Hype der »Luther-Dekade« geht nach dem Kirchentag, staatlich und von der Touristikbranche gefördert, mit Luther-Musical, Luther-Bier, Luther-Keksen, Playmobil-Lutherfiguren, von denen inzwischen eine Millionen Exemplare ausgeliefert wurden, und dergleichen Geschmacklosigkeiten weiter. Und die nächsten Höhepunkte stehen bevor: der 31. Oktober mit dem angeblichen Thesenanschlag in Wittenberg 1517 als bezahlter arbeitsfreier Tag in Deutschland und im Jahre 2021 das 500. Jubiläum des »Reichstages zu Worms« mit dem Auftritt Luthers »vor Kaiser und Reich«. Da ist es geradezu eine gesellschaftspolitische Verpflichtung, auch weiterhin die vielen verdrängten Scheußlichkeiten, zu denen Luther Anregungen gab, und die Legenden, die seine heutigen Verherrlicher zu seinem Ruhme verbreiten, der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Dazu sollen im Folgenden fünf »Luther-Stätten« und ihre dunklen »Luther-Geschichten« vorgestellt werden:
WORMS ist für die lutherischen Hagiographen die zentrale Lutherstadt. Hier steht seit 1868 das größte Lutherdenkmal weltweit. Hier wurde im Zusammenhang mit dem Wormser Reichstag der Luthermythos geboren: Luther, der große Deutsche, Luther, der furchtlose Held. Dazu wird der angebliche Schluss seiner Rede zitiert, womit er den Mächtigen der Welt, dem Kaiser, dem Reich und dem Papst ohnehin, kämpferisch entgegentrat: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen« – doch nur die letzten vier Worte sind historisch verbürgt. Thomas Müntzer, damals noch Luthers bester Schüler und Mitarbeiter, schreibt vier Jahre später, 1524, als er längst mit Luther, den er nun »Dr. Lügner« nennt, gebrochen hatte: »Dass du zu Worms vor dem Reich gestanden bist, Dank sei dem deutschen Adel, dem du das Maul so wohl bestrichen und Honig gegeben hast, denn er wähnte nicht anders, du würdest mit deinem Predigen böhmische Geschenke machen, Klöster und Stifte, welche du jetzt den Fürsten verheißt. Wenn du zu Worms gewankt hättest, wärest du eher vom Adel erstochen als losgegeben worden, das weiß doch ein jeder ... Du ließest dich auf deinen Rat [hin] gefangennehmen ...« (In: »Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg ...«, 1524, zit. aus: Gerhard Wehr (Hg.): »Thomas Müntzer. Schriften und Briefe«, Fischer TB, 1973, S. 140 f.). Die darin erwähnte »Säkularisation von Kirchengütern« spielt auf das Vorbild der hussitischen böhmischen Säkularisation an. Tatsächlich führten zahleiche Fürsten eine »Säkularisation von Kirchengütern« durch, die sie sich aneigneten und dadurch Macht und Einfluss gewannen. Luthers Predigten gegen den Papst schufen ihnen dafür die Legitimation, sie brauchten ihn dafür auch weiterhin, deshalb auch ließ Friedrich der Weise »auf Luthers Rat hin« ihn in die rettende Gefangenschaft, auf die Wartburg, bringen. Thomas Müntzer hatte Recht.
WITTENBERG, die »Lutherstadt«, bietet in diesem Jahr ein Panorama an »Reformationskunst«. Kunst gab es dort auch zur Zeit Luthers; sie wurde geschaffen in der Werkstatt der Familie Cranach. Die Luther-Bilder von Lucas Cranach d. Ä. wurden beste Werbeträger für die Reformation und für ihn selbst. Ein Holzschnitt von Lucas Cranach d. J. verbreitete ein Anliegen, das Luther lebenslang beschäftigte: seinen Kampf gegen Zauberinnen, Hexen, die Teuflischen, die, wie er mit 2. Mose 22 Vers 17 lehrte, verbrannt werden müssten. Ein Augenzeuge, Luthers Mitarbeiter Johannes Mathesius, schreibt zu diesem Holzschnitt: »Zu Wittenberg schmäuchte man [1540, H. H.] auch vier Personen, die, an eichenen Pfählen emporgesetzt, angeschmiedet und mit Feuer wie Ziegel jämmerlich geschmäucht und abgedörrt wurden« – eine besonders brutale Verbrennung, die der Künstler ausdrücklich »begrüßte«. Auch die Zustimmung Luthers dazu, der gerade ortsabwesend war, kann vorausgesetzt werden ebenso wie seine Freude an einer steinernen Darstellung auf einem Relief an der Wittenberger Stadtkirche, ein »Kunstwerk« aus mittelalterlichen Zeiten. In seiner Schrift »Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi«, einer Hetzschrift gegen die Juden, schreibt er 1543 gegen ihre Schriftausleger: »Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau, in Stein gehauen, darunter liegen junge Ferkel und Juden, die saugen; hinter der Sau steht ein Rabbi, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zieht er den Pirtzel [= Pürzel/Bürzel; H. H.] über sich, bückt sich und guckt mit grossem Fleiss der Sau unter den Pirtzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfes und Besonderes lesen und finden.« Und etwas später fällt ihm, dem »großen Sprachkünstler«, der auch die Fäkalsprache umfassend bereicherte, dazu noch dieses ein: »Da Judas Scharioth sich erhängt hatte und, wie den Gehängten geschieht, die Blase geborsten war, da haben die Juden vielleicht ihre Diener mit güldenen Kannen und silbenen Schüsseln dabei gehabt, die die Pisse des Judas (wie man sagt) samt den anderen »Reliquien« aufgefangen, danach gemischt und die Merde [= »Scheiße«; H. H.] gefressen und gesoffen, davon sie so scharfsinnige Augen gekriegt haben«... »Oder sie haben ihrem Gott, dem Sched, in den Hintern geguckt und in demselben Rauchloch solches geschrieben gefunden ...«
EISLEBEN, Luthers Geburts- und Sterbeort mit der Andreaskirche, in der Luther getauft wurde, ist seit 1996 UNESCO-Welterbestadt. Zur Kanzel in der Andreaskirche teilt die Touristik-Information mit: »Auf der 1505 erbauten Kanzel hielt Martin Luther im Februar 1546 seine letzten vier Predigten, bevor er am 18. Februar verstarb.« Was der Besucher nicht erfährt ist ein Fluchwort gegen die Juden als Anhang an seine letzte Predigt am 15. Februar, sein letztes öffentliches Wort, sein letzter Wille, sein Vermächtnis, womit er alle seine Schandschriften gegen die Juden beglaubigte, wofür ihn Adolf Hitler später einmal loben sollte. Die Folgen daraus beschrieb der Philosoph Karl Jasper 1962 zutreffend so: »Luthers Ratschläge gegen die Juden hat Hitler genau ausgeführt.« (Karl Jaspers: »Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung«, 1962, S. 90)
DESSAU liegt an der Mulde nahe der Elbe. Zur Zeit Luthers war es die Residenzstadt der Fürsten von Anhalt. Im Jahre 1532 war er bei ihnen zu Gast. Von einer Begebenheit dabei erzählte er acht Jahre später in einer seiner »Tischreden«, die er immer mitschreiben ließ. In Dessau, so berichtete der »Doctor Martinus«, habe er ein »Wechselkind« gesehen, einen »Kielkropf«, also ein behindertes Kind, von zwölf Jahren, das »nur fraß, und zwar so viel als irgends vier Bauern oder Drescher, und schiss und seichte«, und wenn mans angriff, »so schrie es«. Solche Wechselbälge, so erzählte er weiter, sind »nur ein Stück Fleisch, eine massa carnis«. Danach empfahl er den Fürsten, denen er sich immer gern als eine Art »Politikberater« andiente: »Wenn ich da Fürst oder Herr wäre, so wollte ich mit diesem Kinde in das Wasser, in die Molde, so bei Dessau fleußt, und wollte das homicidium [= Mord; H. H.] dran wagen. Aber«, so stellte Luther bedauernd fest, »der Kurfürst zu Sachsen, so mit zu Dessau war, und die Fürsten zu Anhalt wollten mir nicht folgen. Da sprach ich: So sollen sie in der Kirchen die Christen ein Vater Unser beten lassen, dass der liebe Gott den Teufel wegnehme. Das thäte man täglich zu Dessau; da starb dasselbige Wechselkind im andern Jahr danach.« So machte Luther Dessau zu einem Ort der Schande!
Sein Ratschlag wurde nicht vergessen. Als der höchste NS-Mediziner und Hitlers Euthanasiebevollmächtigter Karl Brandt im Februar 1943 mit dem Leiter der »von Bodelschwinghschen Anstalten« zu »einer menschlichen Aussprache über die Frage der Euthanasie« im Berliner Schloss Bellevue [!! H. H.] zusammentraf, da »fiel der Hinweis, dass ein Mann wie Luther der Auffassung war, man muss derartige missgeborene Kinder ertränken« (Ernst Klee, »›Euthanasie‹ im NS-Staat. Die ›Vernichtung unwerten Lebens‹«, Fischer-Tb, 1986, S. 423). Der Hinweis als Rechtfertigung für sein verbrecherisches Tun konnte Brandt 1948 ebenso wenig vor dem Strang retten wie die Gnadengesuche des späteren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier und der Anstalt Bethel – dennoch beriefen sich später auch noch andere Verantwortliche der Tötungsaktion auf die Aussagen, die Luther in der genannten Tischrede gemacht hatte: die Mörder Werner Heyde, Hans Hefelmann und Werner Catel. Letzterer hatte etwa 16.000 Behinderte umbringen lassen.
STOTTERNHEIM bei Erfurt, so kann man bei Erfurt-web.de lesen, sei »ein Ort von welthistorischer Bedeutung. Mit dem ›Gewittererlebnis‹ von 1505 begann Luthers Weg zum Reformator«. Ein »Luther-Gedenkstein«, 1917 eingeweiht, um »mit der Glaubenskraft Luthers ... weiter zu kämpfen«, soll an der Stelle stehen, wo Luther am 2. Juli 1505 angeblich von einem Blitz niedergeworfen wurde und in Todesangst schrie: »Hilf, liebe Sankt Anna, ich will ein Mönch werden.« Luther selbst und einige seiner Zeitgenossen haben später immer wieder die Vorgänge im Jahr 1505 erörtert; insgesamt gibt es mindestens 17 Hinweise darauf, die zumeist in Luthers umfangreichem Werk von 119 dickleibigen Bänden mit zumeist 500 Seiten und mehr gefunden wurden. Die Hinweise sind zum Teil so widersprüchlich, dass nicht nur Wikipedia im Artikel »Stotternheim« bei dem »Gewittererlebnis« von »Legende« spricht. Vor allem bleibt unklar, was ihn, der gerade sein Magisterexamen gemacht, sein Jurastudium begonnen und sich das teure »Corpus iuris civilis« gekauft hatte, bewog, ins Kloster einzutreten, und zwar gegen den erklärten Willen seines Vaters. War es ein religiöses Grunderlebnis wie beim Apostel Paulus oder trieb ihn eine »Lebenskrise« ins Kloster? Etwas flapsig kann man sagen: Nichts Genaues weiß man nicht.
Eine Erklärung besonderer Art zu Luthers Eintritt ins Kloster geben die beiden katholischen Theologen Dietrich Emme (»Martin Luther. Seine Jugend- und Studienzeit 1483–1550«, 1982) und Albert Mock (»Abschied von Luther«, 1985). Ihre Bücher sind in etlichen Universitäts- und Landesbibliotheken vorhanden, dennoch hat ihre These von seinem Klostereintritt in der protestantischen Lutherforschung kaum Beachtung gefunden. Die These besagt: Luther sei »als Sühne für einen im studentischen Duell begangenen Totschlag und vor allem, im Kloster dafür Schutz suchend, hier eingetreten«. Die katholischen Lutherforscher führen insbesondere eine Bemerkung Luthers aus einer Tischrede an, die einem Freudschen Versprecher entsprungen sein mag und die ich nirgends in der protestantischen Lutherforschung gefunden habe. Sie lautet: »Nach einem einzigartigen Ratschluss Gottes bin ich zu einem Mönch gemacht worden, damit mich [die Ankläger = adversarii; von drei Tischreden-Mitschreibern mit dieser Ergänzung notiert; H. H.] nicht gefangennehmen. Andernfalls wäre ich sehr leicht gefasst worden. So aber konnten sie es nicht, weil sich der ganze Orden meiner annahm.« (Diese Tischrede Nr. 326 in der Weimarer Ausgabe Tischreden, 1. Bd. S. 134, wird von A. Mock schon 1985 zitiert.) Das ergibt: Auf jeden Fall suchte man ihn wegen eines erheblichen Vergehens, wie etwa Totschlag, festzunehmen, so dass er, der gerade hochgeehrte Magister, im Kloster um Aufnahme bat, denn nur hier war damals jedermann vor Verfolgung sicher. Es ist vielleicht auch deshalb kein Zufall, dass Luthers erste Schrift überhaupt, die er veröffentlichte, eine juristische Abhandlung war mit dem Titel »Traktat über diejenigen, die in die Kirche flüchten«. In der Zusammenfassung schreibt er darin am Ende wie für sich selbst: »Zwei Dinge vor allem hat sich hauptsächlich der zur Kirche Fliehende zu vergegenwärtigen: Erstens darf er mit Gewalt nicht herausgeholt werden. Er darf weiterhin wegen jenes Deliktes nicht mehr zum Tode oder zu einer anderen Körperstrafe oder körperlichen Züchtigung verurteilt werden. Amen.« (zitiert nach: »D. Martin Luthers Werke«, Weimarer Ausgabe, 1. Bd., S. 1ff.)
Der Grund, warum Luther in Erfurt ins Kloster eintrat, ist – zumindest von der protestantischen Lutherforschung – noch nicht aufgeklärt. Anlass, den Machern von »Aktenzeichen XY – ungelöst« zuzurufen: »Übernehmen Sie! Das wird auch für Sie eine spannende, fernsehtaugliche Angelegenheit werden!«
Von Hartwig Hohnsbein erschien im SchöneworthVerlag »Der Dunkelluther und sein Erbe. Rede wider den herrschenden Luther-Mythos. Ein garstig Brevier«, 60 Seiten, 7 € zzgl. 1,50 € Porto (www.schoeneworth.net).