Im Februar halbierte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) die Kinderarmut in Deutschland – und kein einziges Publikationsorgan von Bedeutung interessierte sich dafür.
Das kam so: Von 13 Millionen Kindern in Deutschland seien vier Millionen (gut 30 Prozent) arm oder von Armut bedroht, so die Ministerin während der ersten Lesung zum sogenannten Starke-Familien-Gesetz im Plenum des Bundestages am 14. Februar (Originalrede nach: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/mediathek/dr--franziska-giffey-spricht-zum-starke-familien-gesetz/133770). Im darauffolgenden Bundestagsprotokoll wurden wenige Tage später aus den vier Millionen zwei Millionen arme beziehungsweise armutsgefährdete Kinder (Plenarprotokoll 19/80, S. 9281). Zwischen der gehaltenen Rede der Ministerin und der Manuskriptabgabe wenige Tage später musste also ein Wunder geschehen sein. Doch obwohl ich in der wenige Wochen später stattfindenden parlamentarischen Anhörung des Familienausschusses des Deutschen Bundestages auf das Mirakel hinwies (vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/627816/e52bd1307ede1582c1e9717903e89976/19-13-36h_Klundt-data.pdf), fand die bemerkenswerte Nachricht von der kurzerhand um zwei Millionen Kinder halbierten Kinderarmut keinerlei pressetechnischen Widerhall.
Der 5. und bislang aktuellste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom April 2017 stellt das Ausmaß der Kinderarmut so dar, dass von den »insgesamt rund 12,9 Millionen Kindern unter 18 Jahren […] in Deutschland also je nach Datenquelle rund 1,9 bis 2,7 Millionen Kinder mit einem Armutsrisiko [leben], weil die Haushalte, in denen sie leben, über weniger als 60 Prozent des Median aller Nettoäquivalenzeinkommen verfügen. Auch die Armutsrisikoquote für Kinder stieg bis Mitte des vergangenen Jahrzehnts an und verblieb anschließend in etwa auf diesem Niveau« (BMAS 2017, S. 252). Doch dem stellte noch der zweite Entwurf der Bundesregierung vom Dezember 2016 verharmlosend und verfälschend voran: »Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter materiellen Entbehrungen. Betrachtet man den Anteil der Haushalte mit einem beschränkten Zugang zu einem gewissen Lebensstandard und den damit verbundenen Gütern, so sind rund fünf Prozent der Kinder unter 18 Jahren in Deutschland betroffen (EU28: neun Prozent)« (BMAS-DE 2016, S. 242). Aus einer willkürlich zusammengewürfelten Gruppe von neun Gütern (Auto, Miete, Fernseher und so weiter), die wenig mit kindlichen Lebenslagen zu tun haben, soll die Unterversorgung in mindestens drei Fällen als »materielle Entbehrungen« und in mindestens vier Fällen als »erhebliche materielle Entbehrungen« gekennzeichnet werden. Somit hatte die Bundesregierung ein X für ein U verkauft. Denn sie hatte die schön niedrige Zahl für »erhebliche materielle Entbehrungen« (fünf Prozent) genommen und sie als Zahl für »materielle Entbehrungen« verkauft (die aber bei über elf Prozent lag). So konnte sie damals die relative Kinderarmut von fast 20 Prozent nicht nur auf elf Prozent beinahe halbieren, sondern sogar auf knapp fünf Prozent vierteln. Und da sage noch einer, die Bundesregierung tue nichts gegen die hohe Kinderarmut im Lande.
Der neueste Trend versucht, die bisherige relative Bestimmung der Armut(sgefährdung) in eine absolute Armutsbestimmung umzuwandeln und damit zu verkleinern beziehungsweise zu verharmlosen. Um zu zeigen, welche Auswirkungen in der medialen Öffentlichkeit durch die Kleinrechnung der Kinderarmut in Deutschland zu erzeugen sind, seien einige Reaktionen in ein paar relevanten Medienprodukten vorgestellt. Da angeblich »95 Prozent der Kinder […] keine materielle Not« litten, meldete die Saarbrücker Zeitung vom 24. Oktober 2016, dass der aktuelle (innerhalb der Bundesregierung noch in Abstimmung befindliche) Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ein »sehr günstiges Licht auf Kinderarmut« in Deutschland werfe (vgl. Saarbrücker Zeitung vom 24.10.2016). Auf Spiegel online wurde die Regierungsversion ohne kritischen Kommentar folgendermaßen wiedergegeben: »›Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter materieller Not‹, heißt es demnach in dem Bericht. Wenn der Anteil der Haushalte ›mit einem beschränkten Zugang zu einem gewissen Lebensstandard und den damit verbundenen Gütern‹ betrachtet werde, dann seien fünf Prozent der Kinder betroffen« (Spiegel.de vom 13.12.2016). Ebenso frohlockte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Der neue Armuts- und Reichtumsbericht, der sich innerhalb der Bundesregierung noch in der Abstimmung befindet, hält eine Reihe erfreulicher Botschaften bereit« (FAZ vom 14.12.2016). Und die Zeitung Die Welt konnte beruhigen: »[…] auch bei Kindern ist die echte Armut auf dem Rückzug« (WELT.de vom 9.1.2017). Somit war bereits ein regelrechter Verharmlosungsdiskurs zum Thema »Kinderarmut« im Gange, noch ehe der endgültige Bericht überhaupt erschien, welcher wie seine Vorgänger auch durch das Bundeskanzleramt von verschiedenen kritischen Erkenntnissen über die Folgen von Armut und Reichtum gesäubert wurde (vgl. Klundt 2019, S. 134 ff.).
Dass als Rahmenbedingung für Kinderarmut auch die durch Hartz IV und Agenda 2010 vorangetriebene Entrechtungs- und Lohndumping-Dynamik als bewusst eingesetztes gesellschaftspolitisches Konzept zu beachten wäre, ist kein großes Geheimnis. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder forderte schon 1999 freimütig: »Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen« (Frankfurter Rundschau vom 25.7.2013). Und der Journalist Hans-Ulrich Jörges feierte Ziele und Inhalte von Hartz IV: »Kein Arbeitsloser kann künftig noch den Anspruch erheben, in seinem erlernten Beruf wieder Beschäftigung zu finden, er muss bewegt werden, den Job nach überschaubarer Frist zu wechseln – und weniger zu verdienen. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes und die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau verfolgen exakt diesen Zweck. Und: Sozialhilfeempfänger müssen unter Androhung der Verelendung zu Arbeit gezwungen werden« (Stern vom 11.9.2003).
Wer sich also über die gravierende Kinderarmut aufregt, muss wissen, dass sie politisch befördert wurde. Eltern sollten durch zu niedrige Regelsätze oder -leistungen nach SGB II für sich und ihre Kinder sowie durch verschärfte Sanktionen dazu gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen, auch wenn sie von diesem Gehalt sich und ihre Familie nicht einmal ernähren können. Kein Wunder, dass der Bundeskanzler daraufhin stolz das Ergebnis seiner »Agenda 2010« auf dem Wirtschaftsforum von Davos 2005 kundtat: »Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt« (Frankfurter Rundschau vom 8.2.2010). Sofern also der Kinderzuschlag Eltern in den Niedriglohnsektor treibt und das Bildungs- und Teilhabepaket arme, prekäre sowie erwerbslose Familien dann auch noch mit kollektivem Missbrauchsverdacht und kolossaler Bürokratie diffamieren und demütigen sollte, hätten beide Gesetze seit über 14 beziehungsweise acht Jahren erfolgreich ihren Zweck erfüllt.
Auch durch das sogenannte Starke-Familien-Gesetz entwickelt sich indes für Familien und Kinder in SGB-II-Haushalten wenig bis nichts Vorteilhaftes. Außerdem bedeuten die verspäteten Veränderungen beim Kinderzuschlag offenbar nur sehr geringe Verbesserungen bei den real Kinderzuschlag-Beziehenden. Während immer noch viele Familien und Kinder in verdeckter Armut auch mit dem neuen Modell aus dem Kreis der formal Berechtigten ausscheiden (vgl. http://portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2019/2019-01-29_Hintergrund_Kinderzuschlag_PS.pdf), rechnet der Gesetzgeber selbst nur mit einem guten Drittel der Berechtigten (35 Prozent), die ihre Leistung auch tatsächlich erhalten werden (Drucksache Deutscher Bundestag 19/7504, S. 26). Wie wirksam die Unterhaltsproblematik und systematische Benachteiligung von Ein-Eltern-Familien (vor allem mit älteren Kindern) gelöst worden ist, wird im Gesetz nicht erkennbar. Ebenso wird auf eine alters- und entwicklungsspezifische Verbrauchs- und Bedarfsdifferenzierung beim Kinderzuschlag weiterhin verzichtet. Beim Bildungs- und Teilhabepaket lassen sich zudem keine wirksamen Optimierungen für den nichtschulischen Bildungs- und Teilhabebereich erkennen. Vielleicht haben die Mitarbeitenden der Familienministerin ja in der Protokollversion deshalb aus vier Millionen zwei Millionen Kinder gemacht, weil ihnen klar wurde, dass die vollmundigen Versprechen der Ministerin, vier Millionen Kinder aus der Armut(snähe) zu holen, weder zu halten, noch überhaupt beabsichtigt waren.
Ein wirkliches Maßnahmenpaket gegen Kinderarmut wird daher weiterhin benötigt. Wie auch die Nationale Armutskonferenz angemahnt hat, lassen sich Kinder- und Familienarmut am besten durch drei Maßnahmen vermeiden. Neben einem armutsfesten Mindestlohn, wirklich aufgaben- und nicht ausgabenorientierter Kinder- und Jugendhilfe und einer vollständigen Gebührenfreiheit für frühkindliche Bildung sowie einem kostenlosen gesunden Mittagessen braucht es als erstes eine Neuberechnung des Existenzminimums, da die momentane Ermittlung nachweislich nicht bedarfsgerecht ist. Zum Zweiten wird ein Abbau von Ungerechtigkeiten in der Familienförderung verlangt, da derzeit am meisten bekommt, wer am reichsten ist. Drittens muss der Zugang zu Sozialleistungen durch Bündelung an einer Stelle einfacher gestaltet werden, um Bürokratie, Stigmatisierung, Demütigung und Unkenntnis zu vermeiden (vgl. Klundt 2019, S. 166 f.).
Wichtig ist bei allen Überlegungen – auch in Richtung Kindergrundsicherung –, dass Kinder und ihre Familien durch die anvisierten Maßnahmen auch wirklich aus Armut und Hilfsbedürftigkeit befreit werden. Dabei sollte man nicht der Illusion verfallen, Kinder als anscheinend »autonom« aus dem Familienkontext fiktiv herauszulösen und mit einer »eigenständigen Kindergrundsicherung« oder Ähnlichem scheinbar aus der Bedürftigkeit zu holen, während der Rest der Familie weiterhin in der Hilfsbedürftigkeit verbleibt. Arme Kinder sind in der Regel Kinder armer Eltern und sollten nicht gegen sie ausgespielt werden. Überdies sollte jede Konzeption, die pauschal allen und damit auch vielen nicht bedürftigen Eltern und Kindern mit enormen Finanzmitteln unter die Arme greifen will, daraufhin kritisch unter die Lupe genommen werden, wie ihre effektiven Folgen für die Verhinderung und Verminderung von Kinderarmut aussehen. Das heißt, die Ziel-Mittel-Relation bedarf einer präzisen Analyse. Außerdem ist es auch und gerade für ein Eingreifen in politische Diskurse über soziale Polarisierung wichtig, die Primärverteilung des gewachsenen gesellschaftlichen Reichtums bei allen sinnvollen Forderungen von Maßnahmen gegen Kinderarmut im Blick zu behalten. Schließlich kann ein sich selbst arm machender Staat nur schwerlich Armut bekämpfen (vgl. Klundt 2019, S. 173 f.).
Prof. Dr. Michael Klundt lehrt an der Hochschule Magdeburg-Stendal am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften. Vor wenigen Wochen erschien sein Buch »Gestohlenes Leben: Kinderarmut in Deutschland« (PapyRossa Verlag, 197 Seiten, 14,90 €).