Die Bundesregierung informiert: »Kinder sind unsere Zukunft.« Doch wie diese Zukunft aussehen wird, hängt von den Bedingungen ab, unter denen die Kinder leben und aufwachsen. Und da beginnt das Problem.
Schon kleine Kinder können sensibel und mitfühlend sein; wenn sie selbst keine Einfühlsamkeit erleben, verkümmern diese Fähigkeiten. Erzieherinnen, Lehrer und nicht zuletzt die Eltern wollen deshalb Kindern nicht nur Wissen und kognitive Fertigkeiten vermitteln, sondern durch eine sichere emotionale Bindung und Verlässlichkeit dazu beitragen, dass die Kinder einfühlsam und sozial kompetent werden, ein reiches Gefühlsleben haben und dabei ein Gespür für verantwortungsbewusstes Handeln und Aufrichtigkeit entwickeln. Liebe und Wertschätzung sollten Kinder ohne Vorbedingungen erfahren. Sie müssen erleben, dass ihre Gefühle beachtet und respektiert werden. Schon kleine Kinder spüren, wenn Interesse und Zuneigung nicht echt, sondern vorgetäuscht sind und ihre eigenen Bedürfnisse zur Befriedigung ganz andere Ziele benutzt werden. Sie haben zwar kein Wort für seelischen Missbrauch, reagieren darauf aber verstört, unsozial und sogar mit psychischer Krankheit.
Mächtige Interessengruppen in Wirtschaft und Politik sorgen dafür, dass diese Grundlagen eines emotional und sozial befriedigenden Lebens nach und nach ausgehöhlt und teilweise ganz zerstört werden. »Wir liefern Antworten, wie Kinder am besten emotional berührt werden können – online wie offline«, lesen wir auf der Website eines Anbieters von Leistungen zur Erforschung und Beeinflussung kindlicher Bedürfnisse. Die Kinder-Marktforschung setzt »Methoden wie in der Kinder- und Jugend-Therapie« ein, für einen »tiefer gehenden Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt«, um »Verhalten zu entschlüsseln und Marketing zu inspirieren«. Die Konsumforscher wissen: »Marketing beginnt im Kindesalter« und »Markenimages sind Teil der Identität und der Identitätsbildung«. Deshalb forschen sie die Lebenswelt von Millionen Kindern aus – bereits von 3- bis 5-Jährigen. Sie rühmen sich wertvoller Kontakte zu »Journalisten und Redakteuren in Print, TV, Funk und online« und sorgen somit »für PR in Medien«.
Sehr früh schon sind also Kinder Objekte von Profitinteressen. Ihre sozialen und emotionalen Bedürfnisse werden von den Auftraggebern und den Marketing-Experten nicht nur nicht akzeptiert; sie werden vielmehr missbraucht für deren Interessen. Das Ziel ist Beeinflussung, Manipulation bis hin zur Erzeugung von Sucht, nicht die »freie Entfaltung der Persönlichkeit«, die nach dem Grundgesetz doch garantiert sein soll, sondern die Instrumentalisierung kindlicher Bedürfnisse. Zur Gefolgschaft werden sie zwar nicht gedrängt und gezwungen wie im Faschismus; sie soll vielmehr Spaß machen, denn letztlich sollen sich die Kinder mit dieser Form der Ausbeutung identifizieren. Ausbeutung? Ja, nicht weniger verwerflich als Kinderarbeit für den Familienunterhalt im globalen Süden.
Die effektivsten Maschinen zum »Shaping« (ein Ausdruck der Psycho-Konditionierung) von Verhalten und Bedürfnissen sind die »sozialen Medien«. Von Kindern – und mit zwölf Jahren sind laut Umfragen schon alle online, teils mehrere Stunden am Tag – werden sie nicht primär als Informationsmedium genutzt; sie helfen ihnen, ständig in Kontakt zu bleiben. Sie sind ein Werkzeug der neoliberalen Vorgabe der Selbstoptimierung. So anregend und hilfreich sie auch sein können (selbstverständlich nutzt auch der Autor gern und fleißig die Möglichkeiten), sind sie zugleich ein Instrument seelischer Beeinflussung. Deren Quellen – aber auch Folgen – sind die Angst, etwas zu verpassen, der ständige Vergleich mit anderen und das umfassende Belohnungssystem: die Sucht nach »Likes« und »Smileys«. Die tolle Wirkung der unmittelbaren Befriedigung wird sogar physiologisch verankert, denn Essen, Sex und Drogen aktivieren ähnliche Gehirnareale wie die Likes.
Die Welt der Kinder ist der totalen Vermarktung anheimgegeben. Um ihr Innenleben, ihre Gefühle und Wünsche wirksam und ohne rationale Kontrolle kapern zu können, werden neue »Supertargets in Sale & Marketing«, Multiplikatoren und Meinungsführer gesucht und aufgebaut, die sich in das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen einschleichen und einnisten sollen: die Influencer. Deren Job besteht darin, ihre Opfer zu instrumentalisieren und zu beeinflussen. Durch den hohen Vernetzungsgrad der Zielgruppen und die rasante Verbreitung der Videos erreichen sie einen Wirkungsgrad, von dem Werbung herkömmlicher Art nur träumen konnte: Die Vermarkter erreichen über die Influencer zig Millionen »Follower«, ständig gemessen und ausgewertet in »Likeometern«. »Für die Stars [...] sind Fans und Follower die neue Währung. Sie können damit lukrative Werbeverträge abschließen, ihre eigenen Programme promoten und selbst weiter im Gespräch bleiben – für die richtig erfolgreichen Social-Media-Stars geht es pro Post um zehntausende Euro« (t-online.de, 26.1.2019).
Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier klagt nicht ein Kulturkritiker über neue Medien und die Eltern, die ihre Kinder nicht genügend beaufsichtigen. Angeklagt werden soll ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das es für selbstverständlich hält, sich in die privatesten, intimsten Seelenbereiche der Menschen einzuschleichen mit dem Ziel, sie für Profitinteressen zu manipulieren und zu instrumentalisieren – nach Möglichkeit auf eine Art und Weise, dass eine bleibende Abhängigkeit entsteht. Angeklagt wird auch eine Politik, die das aktiv unterstützt und vielleicht nicht einmal ein Gespür dafür besitzt, dass hier Grundrechte und Menschenwürde verletzt werden und dass einem systematischen Missbrauch unter dem Label des freien Marktes Tür und Tor geöffnet wird.
Der marktradikale Staat und seine Machtelite nehmen billigend in Kauf, dass die soziale und emotionale Welt der Kinder »gefaket« wird, dass sie nicht mehr zwischen eigenen und manipulierten Bedürfnissen unterscheiden können. Sie lernen: Man weiß nicht, was wahr ist, alles ist PR, auch das eigene Selbst. Bin ich Subjekt oder Objekt? Allein die Wirkung entscheidet über die »Wirklichkeit«. Der technischen Allmacht entspricht im Inneren die Angst und die Ohnmacht. Zwar waren Kinder schon immer Ideologien und destruktiven Erziehungsmethoden ausgesetzt; noch nie erfolgte aber die Beeinflussung so systematisch, zielgenau und unbemerkt. Die Freiheit des Konsumenten ist die Grundlage der Entmündigung.
Wenn also neoliberale Politiker über rücksichtslose, verletzende, beschämende SMS oder Hassmails, über Fake News, Verrohung und Menschenverachtung klagen, sollten sie auch über die Hintergründe nachdenken. Nicht die Kinder haben sich in ihrer Natur verändert, sondern die Verhältnisse. Der Hinweis auf Gegenbeispiele, auf die Millionen Kinder und Jugendliche bei Fridays for Future und die beeindruckend kreativen und sozial engagierten jungen Leute ist berechtigt und notwendig und vermag Hoffnungen zu wecken. Er macht deutlich, dass auch in diesem Bereich eine soziale Spaltung um sich greift: Das »emotionale Kapital«, etwa vergleichbar dem Begriff »soziales Kapital« des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, ist ungleich verteilt. Gegen die emotionale Stärke der Jungen und Mädchen, die auf sichere Bindungserfahrung und Feinfühligkeit aufbauen kann, kommt das hohle Geschwätz über Influencer und Follower (»Wir kennen die Follower-Zahlen der Dschungel-Stars und wissen, welche Stars und Sternchen am meisten vom Dschungelcamp profitiert haben – und bei wem der Erfolg ausblieb«, t-online.de) nicht an und WhatsApp, Instagram oder Facebook bleiben in ihrer Wirkung begrenzt. Gefährdet sind aber diejenigen, die keinen inneren Schutz gegen die systematische Verführung, Manipulation und Instrumentalisierung des Wertvollsten aufbauen konnten, was sie besitzen: ihrer selbstbestimmten emotionalen Welt.
Was also tun, fragen jetzt vielleicht Eltern und Großeltern. Den Kindern Verbote erteilen, Enthaltsamkeit predigen? Das wäre wenig hilfreich, denn soziale Netzwerke sind inzwischen Teil der Lebenswirklichkeit. Es bleibt nur – und das ist nicht wenig – die gute alte Doppelstrategie: persönlich helfen, politisch bekämpfen.
Im neoliberalen Zeitalter der Förderung oberflächlicher Beziehungen und des Ausagierens aller gehässigen Impulse bedeutet Hilfe für Kinder: emotionale Unterstützung. »Wenn Eltern ihren Kindern mit Empathie begegnen und ihnen helfen, mit negativen Gefühlen wie Wut, Traurigkeit und Angst umzugehen, bauen sie Brücken aus Vertrauen und Zuneigung«, schreibt der US-Psychologe John Gottman. Solche Gefühle zu erkennen, mitfühlend anzuhören und gemeinsam nach Lösungen für die Ursachen der emotionalen Spannung zu suchen ist die Grundlage für Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung, gegen die kein Influencer ankommt.
Vielleicht kommen dann Eltern und Kinder dazu – wie etwa beim Thema Klima –, gegen die destruktiven Mächte und die heuchlerische Politik aktiv zu werden. Es gilt, die Sorgen, die Angst und die Empörung in zielgerichtete Aktionen umzusetzen.