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Titel1619

200 Jahre jugendliche Widerständigkeit  (Ulrich Sander)

Im Anfang war nicht das Wort, im Anfang war die Tat. Das teilte uns Goethe per Faust mit. Am Anfang war nicht das Kommunistische Manifest von Marx und Engels, nicht das Wort, sondern vier Jahre vor 1848 die Tat: der Aufstand der schlesischen Weber, der im Juni 175 Jahre zurücklag, ein vergessener Jahrestag. Völlig zu Unrecht vergessen. Es war der Aufstand auch der Kinder und Jugendlichen. Brutalste Ausbeutung, Hunger, Elend, Kinderarbeit, Perspektivlosigkeit – das trieb Massen an, gegen die Unternehmer aufzustehen, den Polizeikugeln zu trotzen. Rückblende: 22 Jahre alt war der Dichter der Befreiungskriege, Theodor Körner, der »Lützows wilde verwegene Jagd« besang und als Partisan der Freiheitskriege fiel. Wie in den Freiheitskriegen bis 1813, beim Wartburgtreffen 1817 und dem Hambacher Fest 1832 war 1844 im Weberaufstand die Jugend führend. Bis dahin vor allem die bürgerliche, auch adelige Jugend, nun betraten das Proletariat und seine Jugend den Kampfplatz.

Die Jugend schreibt Geschichte. Was aber ist die Geschichte der Jugend? Die Widerständigkeit der Jugend überrascht heute. Mit Fridays for Future hatte niemand gerechnet. Es hat jedoch solche Bewegungen seit 200 Jahren gegeben. Die Zeit der Industrialisierung war die Zeit des aufstrebenden und dann herrschenden Kapitalismus, zugleich der Weltkriege, der brutalsten Ausbeutung von Natur und Mensch, der Erderwärmung, – doch dieses Thema wurde erst spät aktuell. Es weist aber darauf hin, dass alle Auseinandersetzungen dieser Zeitspanne auch immer Klassenkämpfe waren – und sind.

 

Das »Weberlied«, die Hymne des Weberaufstandes, fasste Heinrich Heine zusammen: »Im düstern Aug keine Träne, / Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne. / Deutschland, wir weben dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifach Fluch – wir weben, wir weben!« Wie kam es dazu?

 

Der 25-jährige Weber Karl Müller kommt nach langem preußischen Kasernenhofdrill in sein Heimatdorf Peterswaldau zurück. Die Dorfjugend und er beraten sich am 2. Juni 1844. Sie reden sich vom Herzen, was sie bedrückt und was im »Blutgericht«-Lied der schlesischen Weber zum Ausdruck kommt. Am anonymen Text des Liedes schreiben sie weiter. Die jungen Weber formieren sich und marschieren am 2. und 3. Juni durch die Dörfer im Eulengebirge. Ihre Verse ergreifen die hart hungernden Menschen. Sie ziehen vor das Haus des Kapitalisten und Leuteschinders Zwanziger, der sie zusammenschlagen und einsperren lässt. Tags darauf führen Karl Müller, Sigismund Burghardt, August Knappe wieder den Trupp durchs Dorf. Täglich werden es mehr Weber. Ein gewaltiger Marsch zieht zu den Häusern der Ausbeuter. Ein Gefangener wird befreit. Der Zug der Weber ist nicht mehr aufzuhalten, sie dringen in die Häuser der Ausbeuter ein, hauen alles kurz und klein. Das Militär greift ein. Müller und seine Freunde werden für lange Zeit eingesperrt. Elf Weber kommen zu Tode. 24 sind schwer verletzt. Insgesamt werden 80 Angeklagte zu 203 Jahren Zuchthaus, 90 Jahren Festungshaft und 330 Peitschenhieben verurteilt. Der Aufstand löst eine Kette von Streiks und Teilaufständen in anderen Regionen aus.

 

Mit dem Weberaufstand eröffnete die deutsche Arbeiterklasse ihren selbständigen Klassenkampf gegen ihre unmittelbaren bourgeoisen Ausbeuter und gegen den feudalmilitaristischen preußischen Staat. So sahen es Marx und Engels.

 

Man hat es schon in Geschichtsbüchern gesehen: Das zeitgenössische Bild »Kinder als Kugelgießer hinter einer Barrikade« (aus »Illustrierte Chronik 1848«). Ein weiteres Bild aus den Berliner Märzkämpfen von 1848: Die Lehrlinge Ernst Zinna und Wilhelm Glasewaldt verteidigen säbelschwingend die Barrikade an der Ecke Jäger-/Friedrichstraße. Von den 303 Gefallenen während der Märzkämpfe in Berlin waren die meisten um die 25 Jahre, und dies waren die Jüngsten: der Student von Holzendorff, die Schüler Albert Leitzke, Karl Ludwig Kuhn und August Fehrmann, der Malerlehrling Carl Wilhelm Eden, der Schmiedelehrling Carl Paßmann und der Schlosserlehrling Ernst Zinna. Ihre Namen sollten in Erinnerung bleiben wie jene der Gründer der Sozialistischen Arbeiterjugend und der von Hans und Sophie Scholl und Benno Ohnesorg, auch Philipp Müller, letztere im Ringen für Frieden und Völkerverständigung durch Polizeikugeln gestorben.

 

Dem Massaker vom März 1848 in Berlin folgte bereits 1850 das Verbot jeglicher politischer Betätigung der Jugend. Das Verbot galt in Preußen-Deutschland bis 1918. Es besagte, dass »Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, keine Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen dürfen.«

 

Im Oktober 1904 entstanden gleichzeitig in Berlin und in Mannheim proletarische Jugendvereine, die sich im ganzen Land ausbreiteten. Franz Häusler und Helmut Lehmann waren die Vorsitzenden, Karl Liebknecht war ihr begeisternder Berater. Doch auf Grund des Reichsvereinsgesetzes von April 1908 wurden die Arbeiterjugendorganisationen wiederum aufgelöst. Es war der organisierten Jugend jegliches Politisieren verboten. Heimlich trafen sie sich nun in »Jugendausschüssen« der SPD. Doch das Verbot galt nur für Links. Die bürgerlichen, konservativen, militaristischen Jugendbünde genossen stärkste Förderung – auch aus Unternehmerkassen. Der unvergleichliche Chauvinismus, die Rassenhetzte, die Militärpropaganda trugen 1914 giftige Früchte. Mit Gesang »Deutschland, Deutschland über alles« zogen hunderttausende Freiwillige in den Ersten Weltkrieg. Auf ihre Transportzüge schrieben sie: »Jeder Tritt ein Brit, jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos« und »Weihnachten sind wir zurück« – es dauerte vier Jahre, und erst nach zehn Millionen Toten waren einige Weihnachten zurück. Manche waren derweil zu den roten Matrosen übergegangen, saßen mit ihren Kameraden in einer Kaserne in Berlin, die sie besetzt hatten. Und sie wurden zu Weihnachten und auch später zusammengeschossen von den Soldaten der neuen Regierung, deren Mitglieder sich »Volksbeauftragte« nannten und die Novemberrevolution verrieten.

 

Die Weimarer Republik brachte dennoch neue Freiheiten für die Jugend, besonders für die weibliche. Das Frauenwahlrecht ist da vor allem zu nennen. Junge Arbeiterinnen und Arbeiter vereinigten sich in der kommunistischen und sozialdemokratischen Jugend. Bündische Jugend war ebenfalls Teil der Antikriegsbewegung. Verhängnisvoll war jedoch die Spaltung der Arbeiterbewegung, auch der Jugendbewegung.

 

Und immer wieder war da die Widerständigkeit der Jugend. Sogar in der Zeit des Faschismus. Es war die Zeit, da organisierte und unabhängige junge Menschen mutig etwas leisteten, was Gleichaltrige (die mit der Gnade der späten Geburt) und Ältere nicht schafften. Was Weiße Rose, Edelweißpiraten und jugendliche »Rundfunkverbrecher« unter Einsatz ihres Lebens wagten, das wird bis heute nicht ausreichend anerkannt. Am autonomen antifaschistischen Jugendwiderstand – auch Arbeiterwiederstand – wirkten Tausende junge Menschen mit. Über 250 von ihnen wurden von 1933 bis 1945 aufgrund von Urteilen der Nazigerichte ermordet. Der jüngste war der 17-jährige Christ Helmuth Hübener, der im Oktober 1942 sterben musste. Allein in der Zeit von der ersten Flugblattverteilung der Weißen Rose im Juni 1942 bis zur letzten Gerichtsverhandlung gegen Weißen-Rose-Mitglieder im Oktober 1943 wurden fast 50 ebenfalls sehr junge Widerstandskämpfer verurteilt und hingerichtet. Sie sind weithin unbekannt geblieben. Als Organisationen des Jugendwiderstandes gegen Hitler müssen die katholischen Sturmscharen und der Kommunistische Jugendverband Deutschlands genannt werden. Zu den Führern dieser Organisationen gehörten Kaplan Josef Rossaint (später VVN-Präsident) und Erich Honecker (KPD, später FDJ-Vorsitzender und Vorsitzender des Staatsrats der DDR). Rossaint wurde im »Katholikenprozess« unter anderem wegen seiner Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt. Honecker war von 1935 bis 1945 im Zuchthaus eingekerkert.

 

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) spielte nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch international eine bedeutende Rolle in der antifaschistischen und Friedensbewegung. Die Weltjugendfestspiele und Deutschlandtreffen der Jugend in Ostberlin sind unvergessen. Westdeutsche Teilnehmer an den Treffen wurden in den 50er Jahren tagelang eingesperrt und mit Berufsverboten belegt. Berufsverbote und Haft für über Zehntausend wegen Verstoß gegen das KPD- und FDJ-Verbot in der Bundesrepublik waren jahrzehntelang auf der Tagesordnung.

 

Nähern wir uns der Gegenwart. Zwei Dinge wurden in 68er-Bilanzen oft übersehen: Die organisierte Arbeiterjugend nahm – ausgelöst durch die Vietnamsolidaritätsbewegung – wieder einen Aufschwung, völlig unabhängig von Rudi Dutschke und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Gründungsvorsitzender der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ, am 150. Karl-Marx-Geburtstag gegründet) war Rolf Priemer. Falken und SDAJ gaben den Gewerkschaften so starke Impulse, dass bereits 1969 eine zehntausendköpfige Menge in Köln für Arbeiterjugendforderungen demonstrierte. Vor allem ging es gegen »Oma Gewerbeordnung« aus preußischen Zeiten. 1904 hatte diese und ihre Wirkungen zum Freitod eines Berliner Schlosserlehrlings geführt, der gemäß damals noch gültiger preußischer Gesetzeslage der »väterlichen Erziehungsgewalt« seines Meisters unterstand und Merkmale fortgesetzter körperlicher Misshandlung aufwies. Gegen solche Lehrlingsschinderei entstand die Arbeiterjugendbewegung, die dann ab 1968 wieder Aufschwung nahm. Die Gewerbeordnung wurde abgeschafft, ein neues Gesetz kam zustande.

 

Der SDAJ verbunden war der MSB Spartakus. Er war aus dem »traditionalistischen« Flügel des SDS hervorgegangen. So wurden jene genannt, die sich der Arbeiterbewegung verbunden fühlten, deren Schwerpunkt der Kampf um Demokratie – also gegen die Notstandsgesetze – und um demokratische Volksbildung war. Die erste Veröffentlichung des MSB war die Rede von Georgi Dimitroff auf dem 7. Weltkongress 1935 der Kommunistischen Internationale. Darin waren die Fehler der Kommunistischen Bewegung im Umgang mit der bürgerlichen Demokratie und mit der Sozialdemokratie korrigiert worden. Der restliche SDS sah mehr in der Avantgarderolle seine Aufgabe: »Es ist die Pflicht des Revolutionärs, die Revolution zu machen« – also künstlich herbeizuführen? Mit welchen Mitteln?

 

Zweitens wird allerdings auch ein Negativposten heute wieder sichtbar: Die 68er Kapitalismuskritik wurde zurückgedreht. Freiwillig und unter Druck. Entzug von Fördermitteln ist ein wirksames Mittel der Disziplinierung. Verfassungsschutzämter werten antifaschistische Kapitalismuskritik als nicht grundgesetzkonform. So kehrt der Inlandgeheimdienst zu seinen pro- und postfaschistischen Ursprüngen zurück.

 

Der Druck auf die Jugend war auch in der Bundesrepublik immer da, mal mehr, mal weniger. In den 50er Jahren wurde die antimilitaristische und antifaschistische Freie Deutsche Jugend (FDJ) in Westdeutschland verboten, tausende ihrer Mitglieder wurden eingesperrt. Ihr Vorsitzender Jupp Angenfort saß fünf Jahre im Zuchthaus. Doch die Bewegung gegen die Bundeswehr »Ohne uns« blieb aktiv. Als die Bundesregierung versuchte, »erfahrene« Soldaten aus dem Jahrgang 1921 erneut zur Armee zu rufen, ging ein Sturm der Entrüstung durchs Land. Der Plan musste fallen gelassen werden. Antimilitarismus und Antikapitalismus blieben hauptsächliche Momente der Jugendbewegung. Weniger war zunächst Umweltschutz die Sorge der Bewegung. Ernst Busch sang das populäre Lied: »Go home, Ami, Ami go home – spalt für den Frieden dein Atom.« Bei den Ostermärschen war dies Lied dann weniger zu hören. Für die friedliche Spaltung des Atoms stritt man nicht, aber auch nicht dagegen. Das »Dagegen« kam erst später dazu.

 

Heute ist der Umweltschutz, vor allem das Klima das ganz große Thema. Weniger der Frieden, obwohl das Thema ebenso nötig wäre. Doch die Entwicklung bleibt nicht stehen. Fridays for Future (FFF) beriet sich kürzlich in Dortmund-Wischlingen. Auch Workshops gegen das Militär und gegen den Kapitalismus fanden dort Zuspruch. Greta Thunberg, die 16-jährige Begründerin der FFF-Bewegung sagte etwas sehr Wichtiges: »Ich verlange nicht, dass man uns Kindern zuhört, sondern dass man wissenschaftliche Erkenntnisse ernst nimmt.« Ernst genommen werden sollten bei FFF außer den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auch die anderer Wissenschaften und der Friedensforschung, rieten Autoren der Süddeutschen Zeitung und empfahlen Greta Thunberg und ihren Anhängern freitags ein paar neue Schilder mitzubringen. Und zwar gegen das Wettrüsten und die Gefahr des Atomkrieges. (SZ 3.8.19) Noch geschieht dazu zu wenig. Das wird später einzuschätzen sein, von Generationen nach uns. Wenn es sie noch geben sollte.