»To come along with Russia.« Einen Interessenausgleich mit Russland hatte US-Präsident Donald Trump arrangieren wollen. Doch Trump ist auch damit gescheitert – nicht etwa an der russischen Führung. Die hat beständig Dialog-bereitschaft bekundet. Trump ist gescheitert an sich selbst und an der hysterischen antirussischen Kampagne, die Hillary Clinton und die US-Demokraten nach ihrer Niederlage bei der Präsidentschaftswahl 2016 mit ihrer Russia-Gate-Erzählung losgetreten haben: Russland habe sich wahlentscheidend in den US-Wahlkampf eingemischt, und der Kreml habe Trump in der Hand.
»Ein einziger großer Schwindel«, mit diesen klaren Worten hat Seymour Hersh das wirkmächtige Narrativ im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verworfen (FAZ, 3.3.2019). Hersh wird seit seiner Enthüllung des Massakers von My Lai im Vietnamkrieg als stets bestens informierter Investigativ-Reporter in Washington gefürchtet. Inzwischen durfte er sich durch die Sonderermittlung von Ex-FBI-Chef Robert Mueller bestätigt sehen. Die antirussische Hysterie im Lager der Demokratischen Partei hat das nicht geheilt.
Die US-Demokraten, so Hersh zur FAZ, hätten ein »schmutziges Spiel« nach Trumps Wahl gespielt. Ein Spiel, das vor allem die liberalen US-Konzernmedien kritiklos mitgespielt hätten, weil, so Hersh, ihr »schlechter Journalismus« zu Russia-Gate ein »lukratives Geschäft« mit guten Fernsehquoten und höheren Zeitungsauflagen geworden sei. Dem Vorwurf müssten sich auch deutsche Großmedien stellen.
»Positive Nachrichten aus Moskau sucht man derzeit vergebens, auch dann, wenn es einmal Anlass dazu gäbe. Stattdessen herrscht geradezu eine Obsession mit ›Putin‹, der auch in der deutschen Berichterstattung zunehmend zu einer Art omnipotentem Bösewicht wird. Er scheint seine Finger in nahezu jeder üblen Machenschaft der Weltpolitik zu haben, und es gibt keine Schandtat, die man ihm nicht zutraut«, klagte 2019 der frühere außenpolitische Berater von Helmut Kohl, Horst Teltschik. Gleichzeitig erinnerte er daran, was heute vielen undenkbar scheint: »Es ist noch gar nicht so lange her, da sahen sich Russland und NATO als Partner.« Ungetrübt sei das Verhältnis zwar auch in den 1990er Jahren nicht gewesen, »aber es existierte doch ein gegenseitiges Grundvertrauen, und es kam auf vielen Ebenen, auch im sicherheitspolitischen Bereich, zu erfolgreicher Zusammenarbeit.« Heute aber stehe auch in Deutschland »das Feindbild Russland wieder in voller Blüte«.
Nach dem Fall der Berliner Mauer war die Russophobie vorübergehend aus der Öffentlichkeit verschwunden. Schließlich sollte mit den Russen das »gemeinsame europäische Haus« (Gorbatschow) eingerichtet werden, so wie es die 34 KSZE-Staaten auf ihrer Konferenz im Jahr 1990 mit der »Charta von Paris für ein neues Europa« beschlossen hatten. Unter Boris Jelzin orientierte sich die Russische Föderation vorbehaltlos nach Westen und begann mit der US-dirigierten NATO einen politischen Annäherungsprozess, der sogar gemeinsame Militärmanöver möglich machte, erinnert Teltschik. Seinen Höhepunkt habe dieser Prozess am 27. Mai 1997 erreicht, als NATO und Russische Föderation die »Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit« unterzeichneten. Deren zentrale Botschaft: »Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Sie verfolgen gemeinsam das Ziel, die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen und das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit zu stärken.«
Von diesen guten Absichten, so sie denn von allen Akteuren wirklich ernst gemeint waren, ist nichts geblieben. Als Russland unter Jelzins Ägide ins wirtschaftliche und politische Chaos stürzte und dort alle staatliche Autorität zerfiel, meinte der Westen auf Moskau keine Rücksicht nehmen zu müssen. Vergeblich beschwerte sich Jelzin, als die NATO begann, nach Osten vorzurücken, hilflos mahnte er, der Westen möge nicht vergessen, dass Russland Atommacht ist, als die NATO Jugoslawien bombardierte.
Wie die neue alte Frontstellung gegen Russland über die Jahre aufgebaut worden ist und welche russischen Reaktionen das provozierte, haben vor allem Wolfgang Bittner (»Der neue West-Ost-Konflikt. Inszenierung einer Krise«), Gabriele Krone-Schmalz (»Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist«) und Horst Teltschik (»Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden«) detailliert beschrieben.
Wichtige Stationen der Eskalationsspirale sind der Vertrauensbruch gegenüber Russland durch die Osterweiterung der NATO, die Stationierung von (deutschen) NATO-Truppen im Baltikum, die im Aufbau befindliche Raketenabwehr der USA in Polen und Rumänien, von deren Abschussvorrichtungen die USA auch offensive Marschflugkörper gegen Russland feuern könnten; sie müssten zuvor nur die Software wechseln. Zu den Eskalationsschritten gehören auch der von den USA und der EU wohlwollend begleitete Staatsstreich in der Ukraine mit der darauf folgenden Sezession der Krim und dem Bürgerkrieg im Donbass.
Diese Folgewirkungen dienen nun vor allem den Machteliten in Polen, in den baltischen Staaten und in der Ukraine als kommunikationspolitische Vorlage für schrille Rhetorik und Kriegshysterie. Die damit verbundenen Argumentationsmuster über eine angeblich drohende russische Aggression werden wiederum von den USA und der NATO genutzt, um den Aufbau ihrer militärischen Infrastruktur und immer neue militärische Großmanöver entlang der russischen Westgrenze zu rechtfertigen. Barak Obama erklärte 2014 während der Ukraine-Krise Russland zur »Bedrohung für die ganze Welt«. Und nachdem sich die USA jahrelang auf ihren »Jahrhundertkrieg« gegen den Terror konzentriert hatten, nahmen sie 2018 mit ihrer »National Defense Strategy« ganz offiziell Russland und das mit ihm verbündete China ins Visier sowie Nordkorea und Iran.
Eine vom US-Kongress parteiübergreifend eingesetzte Kommission befürwortete 2018 ausdrücklich die Planung des Pentagons für »Großmachtkriege« gegen Russland und China oder gegen beide gleichzeitig. US-Generalleutnant Ben Hodges prognostizierte am 24. Oktober 2018 bei einer Tagung in Warschau, innerhalb der nächsten 15 Jahre werde es zum Krieg der USA mit China kommen.
Als treuer US-Vasall rüstet auch die Merkel-Regierung die Bundeswehr für diese »Großmachtkonfrontation« auf. Es gelte, mit Russland aus einer »Position der Stärke« zu reden, hat auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mehrfach betont und betreibt seitdem die Militarisierung der EU. Die transatlantische Mobilmachung von USA und NATO gegen Russland, die in diesem Jahr mit dem Großmanöver »Defender Europe 2020« geübt wurde, soll künftig alle zwei Jahre im großen Stil wiederholt werden, im jährlichen Wechsel mit »Defender Pacific«, dem Probeaufmarsch gegen China.
Teltschik hat 2019 gewarnt: »Wir sind dabei Russisch Roulette zu spielen, und es könnte sein, dass die Patronenkammer irgendwann einmal nicht leer ist.«
Die internationale Friedensbewegung opponiert seit Jahren gegen diese Entwicklung und warnt vor einem »Weiter so«. Die aktiven Kerne der deutschen KriegsgegnerInnen haben sich unter dem Eindruck von »Defender 2020« und nach der Annullierung ihres bisher größten Erfolges, des INF-Vertrages über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen in Europa, Anfang des Jahres aktionsorientiert neu vernetzt. Doch ihre Proteste sind – wohl nicht nur wegen Covid-19 – ohne massenhafte Resonanz geblieben.
Ihr traditioneller Bündnispartner, die Gewerkschaften, sammelt zwar seit einiger Zeit Unterschriften für die Forderung »abrüsten statt aufrüsten«, ohne allerdings USA und NATO klar als den Elefanten im Raum zu benennen. Die SPD hat sich auf dem Irrweg militärischer Abschreckung an Union und FDP angepasst, fällt als Aktionspartner aus. Gleiches gilt für die olivgrün mutierten Grünen, deren Führungspersonal in Teilen – vor allem im EU-Parlament – geschichtsrevisionistisch und russophob agiert. Die von Transatlantikern dirigierten Großmedien verhalten sich wie PR-Agenturen der NATO; für die Friedensbewegung sind sie ein echoloser Raum.
Es scheint aber so – Umfragen lassen darauf hoffen –, dass die forcierte Aufrüstung bei größeren Teilen der Bevölkerung auf Misstrauen und Unbehagen trifft. Aber die Kriegsgefahr wird verdrängt. Der mögliche breite Widerstand bleibt apathisch bis ignorant.
Aktuell veranstaltet in Leipzig ein Bündnis großer und kleiner Organisationen – vom BUND über die IG Metall bis zu Oxfam und Robin Wood – vom 25. bis zum 30. August, also unmittelbar vor dem Antikriegstag am 1. September, einen großen Kongress mit dem verheißungsvollen Motto: »Zukunft für alle«.
Utopien und Transformationsstrategien für ein besseres Leben sollen auf Initiative des Vereins Konzeptwerk Neue Ökonomie diskutiert werden. Zielpunkt ist das Jahr 2048, wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die UNO ihren 100. Geburtstag feiert. Das Programm zählt 88 Seiten mit Vorträgen und Workshops zu einer bunten Fülle gesellschaftlicher Problemfelder – Krieg und Frieden aber fehlen.
Mich hat das an Bertolt Brechts Grußbotschaft zum »Völkerkongress für den Frieden« 1952 in Wien erinnert. »Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer«, hat Brecht damals gesagt. »Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht naß, sagen viele.« »Diese Abgestumpftheit ist es«, fuhr Brecht fort, »die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns heute schon vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. Und doch wird nichts mich davon überzeugen«, hat er betont, »daß es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Laßt uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Laßt uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind ...«
In diesem Sinne werden am 1. September wieder zahllose FriedensaktivistInnen ihre Stimme erheben, »fest entschlossen«, wie es in der UNO-Charta heißt, ihren Beitrag zu leisten, um »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren«.
Das Feindbild Russland hat eine zwei Jahrhunderte alte Tradition. Wie die westlichen Eliten es immer wieder aktualisieren und die Russophobie immer wieder schüren, hat kürzlich der Jerusalemer Professor für internationale Beziehungen Guy Laron in der französischen Ausgabe von Le Monde diplomatique (LMd) nachgezeichnet. Die deutschsprachige LMd-Ausgabe hat seinen Report nicht übernommen, aber die Nachdenkseiten haben am 13. Juli eine Zusammenfassung publiziert: www.nachdenkseiten.de.