Am 28. Juli starb Peter Höllenreiner. Er war ein freundlicher Mensch. Freundlich zu dem kleinen, dreifarbig gescheckten Hündchen, das ihn in den letzten Jahren überallhin begleitete. Freundlich zu den Kindern, die bei den Veranstaltungen im Kulturhaus von München-Hasenbergl ihr musikalisches Können zeigten. Freundlich zu uns und den anderen Veranstaltungsbesuchern, egal ob Sinti, Roma oder nicht der Minderheit angehörende »Gadsche«. Aber er konnte auch sehr zornig werden. Das war immer der Fall, wenn er spürte, dass ihm und seinesgleichen nicht die gebührende Achtung entgegengebracht wurde.
Peter Höllenreiner war ein Münchner Sinto. Ein Deutscher, darauf legte er Wert. Nicht weil er Deutsch-Sein für etwas Besonderes hielt, sondern weil er klarstellen wollte, dass Deutsch-Sein für Sinti genau so normal ist wie für Nicht-Sinti. Das müsste eigentlich selbstverständlich sein. Ist es aber bis heute nicht – und war es in der Vergangenheit erst recht nicht.
Auf Peter Höllenreiners linkem Unterarm war, wenn er den Ärmel hochkrempelte, eine Nummer zu sehen: Z 3531. Seine KZ-Nummer. Sie wurde ihm eintätowiert, als er am 16. oder am 18. März 1943 – einen Tag vor oder einen Tag nach seinem vierten Geburtstag (die Angaben schwanken) – im »Zigeunerlager« Auschwitz-Birkenau ankam, zusammen mit seinen Eltern, seinen fünf älteren Geschwistern, seinen Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen sowie Hunderten weiterer Deutscher aus der Gruppe der Sinti und Roma. Sechs schreckliche Tage und fünf entsetzliche Nächte lang waren sie in überfüllten Viehwaggons aus Bayern ins besetzte Polen gekarrt worden. Nach Meinung der faschistischen deutschen Machthaber hatten sie kein Recht, sich Deutsche zu nennen, nicht einmal das Recht, zu leben. Fünfhunderttausend Sinti und Roma aus dem NS-besetzten Europa fielen dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer, etwa fünfundzwanzigtausend wurden nach Auschwitz deportiert, die meisten von ihnen dort umgebracht. Allein die Familie Höllenreiner hatte 39 ermordete Angehörige zu beklagen. Wer überlebte, hatte die Hölle durchgemacht.
Peter Höllenreiner hat überlebt, und wie durch ein Wunder kehrten auch seine Eltern und alle seine Geschwister nach der Befreiung nach München zurück. An die Zeit in den Lagern – auf neun Monate Auschwitz folgten noch die KZs Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen – konnte sich der Junge nach 1945 nur bruchstückhaft erinnern. Trotzdem litt er schwer unter den traumatisierenden Erlebnissen. Lebenslang peinigten ihn nicht nur körperliche Folgeschäden, sondern auch Albträume und Angstzustände.
Wie wenn nichts gewesen wäre
Maria Anna Willer, die Peter Höllenreiners Leben aufgeschrieben hat, resümiert den Zustand des Kindes, das mit sechs Jahren schon unvorstellbare Schrecken hinter sich hatte und nun schulpflichtig geworden war: »Die Schulzeit beginnt für ihn, wie wenn nichts gewesen wäre. Doch er hatte seine Kleinkinderzeit unter Todesgefahr verbracht. Im Kindergarten erkunden Kinder die Welt, machen ihre ersten Schritte, finden erste Freunde, bauen Sandburgen, lassen ihrem Spieltrieb und ihrer Neugierde freien Lauf. Peters Erfahrung und Erinnerung in diesem Alter war, dass ein Mann in Uniform auf ein Kind, das mit dem Ball spielt, schießt, dass in meterhohen Zäunen lebensgefährlicher Strom fließt und dass Kinder von Menschen in Uniform einfach erschossen werden dürfen.« Erfahrungen des Ausgeliefert-Seins, der Ohnmacht, der Wehrlosigkeit.
Der Staat, in den die Überlebenden zurückgekehrt sind, ist nicht geeignet, das verlorene Vertrauen in die Mitmenschen wiederherzustellen. Es sind nicht nur die gewalttätigen, weiterhin mit rassistischen Vorurteilen vollgestopften Lehrer, deren »Erziehung« Peter ausgeliefert ist. Die Vorurteile sind allgegenwärtig. Noch im Jahr 2014 sagt Höllenreiner: »Der Zigeuner ist in den Köpfen drin.« Anfang 1956 – Peter ist siebzehn Jahre alt – weist der Bundesgerichtshof die Beschwerde eines ehemaligen KZ-Häftlings gegen die Ablehnung seines Entschädigungsantrags ab und bestätigt die Auffassung der Vorinstanz, wonach Sinti und Roma zum großen Teil nicht aus rassistischen Gründen in die KZs deportiert worden seien, sondern wegen eines angeblichen angeborenen Hangs zur Kriminalität. Sie seien selbst schuld gewesen, heißt das, und daher hätten sie keinen Anspruch auf Entschädigung. Das Urteil und seine Begründung offenbaren den ungebrochenen Rassismus des obersten Gerichts der BRD: »Die Zigeuner .... neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien«, heißt es da. Und: »Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist ...« Keine Achtung vor fremdem Eigentum? Ungehemmter Okkupationstrieb? Als vor 1945 die deutschen Herrenmenschen hemmungslos das Hab und Gut ihrer Opfer stahlen und deren Eigentum zerstörten, hatten dieselben Richter kein Unrecht erkannt. Als die deutsche Wehrmacht ein Land nach dem anderen okkupierte, hatten sie nicht dagegen protestiert. Jetzt beschuldigten die Täter ihre Opfer der Verbrechen, die sie selbst begangen hatten. Es dauerte sechzig Jahre, bis sich 2016 die damalige Präsidentin des BGH, Bettina Limperg, offiziell entschuldigte (s. Ossietzky 7/2017).
Trotz alledem
»Der Zigeuner ist in den Köpfen drin« – Peter Höllenreiner erfährt es in diesen Jahren täglich, in der Schule, bei der Lehrstellensuche, auf dem Sportplatz, in der Wirtschaft, vor Gericht. Man darf ihn ungestraft zurücksetzen, beleidigen, grundlos verdächtigen, ihn verurteilen für Dinge, die er nicht getan hat. Wenn er erklären will, wie es war, hört man ihm nicht zu. Ein Richter über ihn während einer Verhandlung: »Der hat doch die Schlechtigkeit schon mit der Mutterbrust eingenommen.« Bei der Polizei, in den Behörden sind noch Personen zugange, die schon bei den Deportationen in den 1940er Jahren mitgewirkt haben. Die Akten der »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« sind weiterhin in Gebrauch. Die »Zigeunerpolizei« ist unter dem Namen »Landfahrerzentrale« wieder auferstanden; erst 1970 wird sie aufgelöst. Die Richter, die Recht sprechen sollen, kennen das Urteil des Bundesgerichtshofes und halten sich daran. Diese Richter sind nicht in der Lage, staatliches Unrecht als solches zu erkennen. Erst 1982 wird die Ermordung einer halben Million Sinti und Roma durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt »in völkerrechtlich relevanter Weise« als Völkermord anerkannt.
Peter Höllenreiner lässt sich nicht unterkriegen und wird trotz allem ein erfolgreicher Kaufmann. Er kann gut mit den Bauern in der Umgebung von München. Die verkaufen ihm ihre alten Zinnkrüge sowie manch alten Schrank und manches ausrangierte Erbstück. Er hat einen Blick für Schönes, restauriert liebevoll die Fundstücke. Er handelt mit Antiquitäten, später mit Schmuck und teuren Uhren. Er kauft ein Haus, heiratet und hat vier Kinder. Glück habe er gehabt, sagt er.
Die KZ-Nummer auf seinem Unterarm lässt er entfernen. Das muss in der Zeit gewesen sein, die er als Glück bezeichnete.
Dass nicht vergessen wird
Viele Jahre später, 2015, lässt er die Nummer neu tätowieren. »Der Zigeuner«, stellt er fest, »ist noch immer in den Köpfen.« Zwar hat sich viel verändert. Es gibt jetzt eine aktive Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma. Der Hungerstreik zu Ostern 1980 in der KZ-Gedenkstätte Dachau hat internationales Aufsehen erregt und die öffentliche Aufmerksamkeit auf die fortgesetzte Diskriminierung der Minderheit gelenkt. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wurde gegründet und ist zu einer vernehmbaren Stimme geworden. In Bundestag und Bundesrat finden jetzt an bestimmten Jahrestagen offizielle Gedenkveranstaltungen statt. In München gibt es seit 1995 am Rande des Platzes der Opfer des deutschen Faschismus eine Gedenkplatte für die ermordeten Sinti und Roma aus der Landeshauptstadt. Bei der Einweihung ist Peter Höllenreiner dabei gewesen, auch wenn ihm die Platte zu unscheinbar ist. Auch an der Einweihung des von dem israelischen Künstler Dani Karavan schön gestalteten Mahnmals in Berlin hat der Münchner 2012 auf Einladung von Bundeskanzlerin Merkel teilgenommen. Die offizielle Anerkennung des Völkermordes liegt da bereits dreißig Jahre zurück. In dieser Zeit ist Peter Höllenreiner zum aktiven Mitglied der Bürgerrechtsbewegung geworden. Besonders die Jugend ist ihm wichtig. Sie muss dafür sorgen, dass nicht vergessen wird, was »damals« geschah, vor und auch nach 1945. Im August 2015 erscheint seine Biografie. »Der Junge aus Auschwitz … eine Begegnung – Das Leben des Münchner Sinto Peter Höllenreiner nach 1945« heißt sie. Höllenreiner hat in vielen Sitzungen der Journalistin Maria Anna Willer erzählt, was zu erzählen ihm möglich war. Oft brachen die Schilderungen jäh ab: »Das kann man nicht erzählen ...« Oder: »Das kann man sich nicht vorstellen.«
Kurz vor dem Erscheinen des Buches, im Juni 2015, ist Peters Bruder Hugo Höllenreiner gestorben, ein engagierter Zeitzeuge und Peters Vorbild. Seine Arbeit will Peter fortsetzen. Dabei geht es ihm nicht nur um das Wohlergehen der Sinti und Roma. Er weiß: Wie die Gesellschaft mit Minderheiten umgeht, ist ein Maßstab für den Zustand der Demokratie.
Im Juli 2016 kehrt er zum ersten Mal nach Auschwitz zurück. Anlässlich des katholischen Weltjugendtages in Krakau besucht Papst Franziskus die Gedenkstätte. Zwölf Überlebende dürfen ihn begleiten. Einer davon ist Peter Höllenreiner – ein Highlight im Leben des gläubigen Katholiken. Anschließend nimmt er an der Gedenkfeier zum 72. Jahrestag der Liquidierung des »Zigeunerlagers« und der Ermordung der darin verbliebenen mehr als 3000 Sinti und Roma teil. Am 2. August 2017 hält er die Ansprache als Vertreter der Überlebenden. Auch in den darauf folgenden Jahren reist er, trotz seiner angeschlagenen Gesundheit und den mit der Reise verbundenen Strapazen, zu den Gedenkfeierlichkeiten am 2. August nach Auschwitz-Birkenau.
Auch in diesem Jahr wollte er dabei sein. Es war ihm nicht mehr möglich. Wenige Tage davor starb er im Kreise seiner Familie.