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Titel1708

Funktionsfähig – wofür?  (Jürgen Rose)

Als die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts meine Verfassungsbeschwerde in Sachen »Soldatische Meinungsfreiheit und die Ehre der Generalität« zurückwies, hüllte sie sich in ihrem Nichtannahmebescheid in dumpfes Schweigen über den Irak-Krieg und die deutsche Beteiligung daran. Zugleich verengte sie ihren verfassungsrechtlichen Fokus ausschließlich aufs Soldatengesetz und eskamotierte sich damit aus der Verlegenheit, die inhaltliche Begründung der inkriminierten Passagen aus dem Ossietzky-Beitrag mit der eigentlich gebotenen richterlichen Sorgfalt zu erörtern. Als tückisch erwies sich dabei, daß das Soldatengesetz die Grundrechte des Staatsbürgers in Uniform stark einschränkt. Schon in früheren Entscheidungen hatte das Bundesverfassungsgericht konstatiert, daß »die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr verfassungsrechtlichen Rang haben«. Demzufolge tritt nach Ansicht der 3. Kammer im vorliegenden Fall »das Grundrecht der freien Meinungsäußerung (...) dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Interesse der Bundeswehr an der Wahrung ihrer Funktionsfähigkeit gegenüber«. Daß eine Truppe, wenn sie denn schon zwangsweise durch jeden Steuerbürger finanziert wird, einsatzfähig sein soll, ist durchaus plausibel. Andererseits aber einem militärischen Gewaltapparat wie der Bundeswehr, der nach einem Postulat des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann jederzeit zugunsten einer besseren Alternative in Frage zu stellen ist, seine Funktionstüchtigkeit als Quasi-Grundrecht zu garantieren und mit den fundamentalen Menschen- und Bürgerrechten auf eine und dieselbe Stufe zu stellen, scheint mir doch dringend diskussionsbedürftig.

Zumal an diesem Punkt ein bemerkenswerter Dissens in der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufscheint. Das Bundesverwaltungsgericht hatte nämlich 2005 im Fall Pfaff in sein Urteil geschrieben: »Die Streitkräfte sind als Teil der vollziehenden Gewalt ausnahmslos an Recht und Gesetz und insbesondere an die Grundrechte uneingeschränkt gebunden. Davon können sie sich nicht unter Berufung auf Gesichtspunkte der militärischen Zweckmäßigkeit oder Funktionsfähigkeit freistellen.« Denn, so die Leipziger Bundesverwaltungsrichter: »Das Grundgesetz normiert (...) eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte.« Zwar erkannte auch das Bundesverwaltungsgericht das inhärente Spannungsverhältnis zwischen der Funktionstüchtigkeit der Bundeswehr und der Grundrechtegarantie für die Soldaten, löste dieses jedoch elegant mit der Formel von der »Praktischen Konkordanz« auf, derzufolge die Interessenwahrung der Streitkräfte so zu erfolgen habe, daß die Grundrechte der Soldaten stets gewährleistet blieben.

Dagegen klammern sich die Karlsruher Bundesverfassungsrichter an ein überkommenes, vordemokratisches Sonderstatusverhältnis, das den Soldaten gerade im Fall eines Konflikts mit dem Dienstherrn seiner Grundrechte weitgehend beraubt und somit zum Staatsbürger zweiter Klasse degenerieren läßt. Der Konzeption der »Inneren Führung« mit ihrem konstitutiven Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform« erweisen die Bundesverfassungsrichter damit einen Bärendienst. Denn schon herrscht in weiten Teilen der Truppe jener berüchtigte vorauseilende Gehorsam, gespeist aus militärischem Untertanengeist und Karrierismus. Im Zweifel wird nicht räsoniert, sondern das Maul gehalten und gehorcht.

Zudem – und hier zeigt sich ein skandalöses Defizit des Nichtannahmebeschlusses – definiert das Bundesverfassungsgericht die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nur ganz abstrakt und verortet sie damit im politischen Vakuum. Und dann behaupten die Verfassungsrichter allen Ernstes, es sei »nicht zu verkennen, daß die gewählte Form der Meinungsäußerung, insbesondere mit ihren persönlichen Angriffen, geeignet war, die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr empfindlich zu stören.« A la bonheur – da wird der Zweiwochenschrift Ossietzky aber, um im militärsprachlichen Bilde zu bleiben, eine publizistische Durchschlagskraft verliehen, die nicht nur den Herausgeber der ehrwürdigen Weltbühne, sondern auch seinen scharfzüngigsten Autor, den seligen Kurt Tucholsky, posthum erfreuen dürfte. Zu dumm nur, daß in den Reihen der Uniformierten kaum einer mit dem Namen Ossietzky etwas anzufangen weiß, geschweige denn Ossietzky liest und versteht.

Die Hauptfrage in der gesamten Causa, von den Verfassungsrichtern völlig außer Acht gelassen, ist aber diese: wofür denn die deutschen Streitkräfte eigentlich funktionsfähig sein sollen. Gerade in dem Fall, daß politische und militärische Entscheidungsträger die Bundeswehr in völkerrechtlich umstrittene und verfassungsrechtlich prekäre Einsätze befehlen, soll und darf sie eben gar nicht funktionieren. Hierin besteht doch gerade die Raison d`être der im Wissen um die ultimative deutsche Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und um das desaströse Versagen der Wehrmachtsführung neugegründeten Bundeswehr: daß durch die kategorische Bindung der Streitkräfte an das Recht ein nochmaliger Mißbrauch deutschen Militärs zu illegalen, völkerrechts- und verfassungswidrigen Zwecken unter allen Umständen ausgeschlossen werden soll. Deshalb fordert doch die Konzeption der Inneren Führung mit ihrem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform genau den Soldatentypus, der zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden versteht und sich im Zweifelsfalle rechtswidrigen Befehlen widersetzt. Und genau aus diesem Grunde pflegt doch die Bundeswehr die Tradition der Widerstandskämpfer des 20. Julis 1944, allen voran die des Obersts im Generalstab Claus Schenk Graf von Stauffenberg.

Sich dieser Problematik zu stellen, hat das Bundesverfassungsgericht offensichtlich bewußt vermieden, wäre doch die Schockwelle des daraus entspringenden Urteils und seiner Konsequenzen für die Außen- und Sicherheitspolitik der Berliner Republik und deren Akteure zweifellos gewaltig gewesen. Darum verließ die Karlsruher Verfassungshüter wohl einfach der Mut – was wiederum die beklemmende Frage aufwirft, wie es um die Zukunft unserer Verfassung bestellt sein mag, wenn das äußerste aller Verbrechen, das des Angriffskrieges, das alle anderen Verbrechen in sich birgt und entfesselt, von höchstrichterlicher Seite stracks ins verfassungspolitische Nirwana expediert wird.

Ebenso deutlich wie emphatisch hat schon vor Jahren der Frankfurter Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano diese Problematik zur Sprache gebracht, als er konstatierte: »Es ist befremdlich, daß das Bundesverfassungsgericht zwar in allerlei symbolischen Konflikten zu ›Kruzifix‹-Urteilen und ›Soldaten-sind-Mörder‹-Entscheidungen aufgerufen sein soll, daß aber dann, wenn Soldaten vielleicht tatsächlich Mörder sind und sich an militärischen Auseinandersetzungen beteiligen, die eventuell völkerrechts- und verfassungswidrig sind, eine direkte verfassungsrechtliche Klärung an Verfahrensfragen scheitert. Krieg oder Frieden, Frieden durch Krieg – und das Bundesverfassungsgericht, der Wächter über die deutsche Staatsgewalt, hat nichts zu sagen?«

Jürgen Roses Artikelserie zur Ächtung des Angriffskriegs, die in Ossietzky 1/08 begann, wird fortgesetzt. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt.