An den Opfern der NS-Militärjustiz wurde die blutigste juristische Verfolgung der deutschen Geschichte begangen – allein über 30.000 Todesurteile, eines davon gegen mich, weil ich desertiert war. Der zentrale Ort unserer Verfolgung war Fort Zinna in Torgau. Mehr als 1.200 unserer Torgau-Häftlinge wurden erschossen, enthauptet oder erhängt; die meisten Verurteilten haben die Verfolgung nicht überlebt. Nach 1945 wurden dort die sowjetischen Speziallager 8 und 10 eingerichtet und 1950 eine Strafvollzugsanstalt der DDR. Für deren Häftlinge wurde 1992 mit finanzieller Unterstützung der sächsischen Landesregierung am Fort Zinna eine Gedenkstätte geschaffen. Unseren Opfern wurde eine Gedenkstätte verweigert. Inzwischen sind fast alle, die überlebt hatten, gedemütigt verstorben. – Soweit habe ich unsere Geschichte schon in einem früheren Ossietzky-Heft ausführlich geschildert. Wie aber ist sie seitdem weitergegangen?
Der Zentralrat der Juden und die anderen NS-Verfolgtenverbände haben im Januar 2004 die Stiftung Sächsische Gedenkstätten unter Protest verlassen, weil sie die Menschheitsverbrechen der NS-Verfolgung mit den Inhaftierungen nach 1945 gleichsetzt oder hintanstellt und NS-Täter zu Opfern macht. So geschah es in einer Dauerausstellung im Torgauer Schloß, und so geschieht es jetzt in der im Oktober 2007 fertiggestellten Gedenkstätte am Fort Zinna – die aber noch nicht eröffnet ist.
Mitte Juni 2008 trafen wir uns ein weiteres Mal mit Vertretern des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst und der Stiftung Sächsische Gedenkstätten in Torgau, um zu sehen, ob eine für uns akzeptable Gedenkstätte doch noch zu erreichen ist. Ich trug vor, daß die Stiftung – die immer wieder Grundverschiedenes zusammenwirft – jedenfalls verpflichtet ist, den Schwerpunkt des Gedenkens sowohl in der Gedenkstätte als auch in der Dauerausstellung auf die Opfer der Nazi-Verfolgung zu setzen, wie es der Deutsche Bundestag ausdrücklich verlangt hat. Der Bundestagsbeschluß sieht vor, daß schwerpunktmäßig in Torgau der NS-Opfer und in Bautzen der nach 1945 Verfolgten gedacht werden soll. In Bautzen wird tatsächlich nur dieser zweiten Gruppe gedacht, folglich darf sich – wenn wir Opfer der NS-Militärjustiz nicht benachteiligt werden sollen – das Gedenken in Torgau nur auf unsere Verfolgung konzentrieren. Die Dauerausstellung im Schloß zeigt aber weit mehr Portraits von nach 1945 Inhaftierten als von Nazi-Opfern, und auch in der Gedenkstätte liegt der Schwerpunkt bei ihnen.
Nun will die Stiftung mit einer Skulptur in der Gedenkstätte die Schwerpunktsetzung ändern – wenn das Geld dazu erbracht werden kann. Sie kündigte an, daß sie auch in der Ausstellung eine solche Änderung beabsichtige, wofür aber zur Zeit noch kein Geld zur Verfügung stehe. Das heißt: Die vom Bund für das Gedenken an die Opfer der NS-Militärjustiz bereitgestellten Gelder wurden für die nach 1945 Inhaftierten zweckentfremdet, und deshalb kann es für uns jetzt kein würdiges Gedenken geben. Als die Dauerausstellung im Mai 2004 neu eröffnet wurde, habe ich dort unter Protest mein Verfolgtenportrait entfernen lassen. Ich hoffte, es für eine würdige Ausstellung wieder freigeben zu können. Ich bin jetzt 86 Jahre alt und habe diese Hoffnung verloren.
Bis vor kurzem behauptete der Ausstellungstext, in den Torgauer Speziallagern 8 und 10 hätten keine Nazi- und Kriegsverbrecher gesessen. Obwohl die sächsische Stiftung dem wissenschaftlichen Beirat der Bundesvereinigung Opfer der Militärjustiz bis heute jede Auskunft über diese Speziallagerhäftlinge verweigert, wissen wir inzwischen, daß unter ihnen viele Unschuldige, daneben aber auch Tausende NS-Täter waren – auch solche, die wir als unsere Verfolger kennen. Darum ist für unsere Bundesvereinigung und die Betroffenenverbände aus Luxemburg und Österreich eine strikte massive Trennung der beiden Gedenkstättenbereiche unabdingbar.
Der Text für die Informationstafel der Gedenkstätte mußte schon viermal geändert werden, weil wir sachliche und historische Fehler nachgewiesen hatten, darunter die falsche Behauptung, die Urteile der NS-Militärjustiz gegen uns seien 1998 aufgehoben worden. Die letzten drei Textentwürfe nannten richtig 2002 als das Jahr der Aufhebung dieser Urteile. Doch kürzlich mußte ich bei einem Besuch der Gedenkstätte feststellen, daß auf der Informationstafel wieder fälschlich das Jahr 1998 angegeben ist. Die Jahreszahl hat eine besondere Bedeutung: Weil die Militärjustiz mehr Todesurteile verhängt hatte als die ganze andere NS-Justiz, wollte der damalige Bundesjustizminister Schmidt-Jorzig (FDP) unsere Opfer unbedingt zusammen mit den anderen NS-Opfern rehabilitieren. In diesem Sinne bereitete er einen Gesetzentwurf vor. Doch am 27. Mai 1998 setzte die CDU/CSU durch, daß unsere gesetzliche Rehabilitierung aus dem Entwurf gestrichen wurde, und so beschloß der Bundestag das Gesetz am folgenden Tage in 3. Lesung. Eine beispiellose Demütigung unserer Opfer.
Auf der Tafel müssen auch die nach 1945 in Torgau inhaftierten Kriegsrichter und Schergen der Gestapo und des SD als unsere Verfolger benannt werden. Zur Klärung historischer Zusammenhänge ist diese Forderung für uns unabdingbar.
Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten behauptet, mit der Gedenktafel für die nach 1945 Verfolgten werde nur derer unter ihnen gedacht, die nicht schuldig geworden seien – eine Täuschung. Denn die Richter, die uns verurteilten, sind nach dem Krieg aufgestiegen bis zu Bundesrichtern. Sie hatten prägenden Einfluß auf die Nachkriegsrechtsprechung. Marinerichter Hans Filbinger war bis zu seinem Tod Ehrenvorsitzender der CDU Baden-Württemberg. Nicht ein Richter ist je im Westen bestraft worden. Die in der DDR verurteilten Kriegsrichter wurden mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz 1992 pauschal rehabilitiert, auch wenn sie dutzende oder hunderte Todesurteile gefällt hatten. Sie gelten alle als unschuldig. Wir, ihre Opfer, wurden erst zehn Jahre später rehabilitiert – gegen die Stimmen Sachsens und Bayerns im Bundesrat.
Die mit der Todesstrafe bedrohten Deserteure, Wehrkraftzersetzer, Kriegsdienstverweigerer und Kriegsverräter wurden in vielen Fällen von Angehörigen der Gestapo und des SD verhört, oft auch gefoltert. Allein im Torgauer Speziallager 8 waren hunderte Schergen der Gestapo und des SD inhaftiert. Wenn sie und die in Torgau inhaftierten Kriegsrichter nicht auf der Informationstafel als unsere Verfolger benannt werden, wenn der vom Deutschen Bundestag für unsere Torgauer Opfer geforderte Schwerpunkt des Gedenkens nicht verwirklicht wird und wenn die beiden Gedenkstättenbereiche nicht strikt voneinander getrennt werden, dann ist das für uns ein Schandmal, welches uns als letzte überlebende Opfer hindert, den Ort unserer Verfolgung je wieder zu betreten.
Ludwig Baumann ist Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz. Am Donnerstag, 28. August, um 19 Uhr nimmt er an der Republikanischen Vesper im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin (Prenzlauer Berg), Greifswalder Straße 4 teil, wo mit ihm und dem Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, Heinrich Fink, über das neue Gedenkstättenkonzept des Bundes und das darin vorherrschende Bestreben, »Drittes Reich« und DDR gleichzusetzen, diskutiert werden soll.