Die Föderalismusreform hat den Bundesländern Gesetzgebungskompetenzen auch in Bereichen gegeben, wo der Sinn dieser Änderung nicht ohne weiteres einsichtig ist. Kritiker haben beispielsweise von Anfang an befürchtet, daß es im Strafvollzug zu einem »Schäbigkeitswettbewerb« kommen könnte, denn die neuerdings hierfür zuständigen Länder leiden überwiegend an maroden Haushalten und werden wohl kaum so viel Geld aufwenden, wie ein am Resozialisierungsziel auszurichtender Strafvollzug kosten würde. »Billiger« im doppelten Wortsinn, nämlich auch im Sinne des populistischen Kampfes um Wählerstimmen, erscheint da vielen Justizministerinnen und -ministern der – eigentlich seit Mitte der Siebziger Jahre überwunden geglaubte – bloße Verwahrvollzug.
Eine andere strittige Materie ist das Versammlungsrecht. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gilt in der gesamten Republik gleichermaßen. Die Regelungen im Detail waren daher in einem Bundesgesetz zusammengefaßt, das sich als einigermaßen brauchbar erwiesen hat. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten Brokdorf-Entscheidung vom 14. Mai 1985 den Wert des Demonstrationsrechts für die Demokratie betont und die Sicherheitsbehörden zu grundrechtsfreundlichem Verhalten verpflichtet.
Das Bundesverfassungsgericht hat damals unter anderem ausgeführt: »Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozeß und Willensbildungsprozeß teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts ist vom Gesetzgeber beim Erlaß grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten … Die staatlichen Behörden sind gehalten, nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben.«
Unabhängig von der Frage, wie die Brokdorf-Grundsätze im Einzelfall praktiziert worden sein mögen, gab es jedenfalls keine vernehmbaren Rufe nach Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz in die Länder und nach der damit verbundenen Rechtszersplitterung. Dennoch haben Bundestag und Bundesrat mehrheitlich anders entschieden. Die Folgen sind derzeit in Bayern zu besichtigen.
Bayern hat als erstes Bundesland die neue Kompetenz für das Versammlungsrecht genutzt. Der ursprüngliche Entwurf stieß noch im Mai bei einer Anhörung im Landtag auf heftige Kritik von Sachverständigen. Beispielsweise bewertete der frühere Verfassungsrichter Klaus Hahnzog die vorgeschlagenen Regelungen als »obrigkeitsstaatlich«. Der Landesvorsitzende des DGB in Bayern, Fritz Schösser, sagte: »Das können und werden die Gewerkschaften nicht akzeptieren.« Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger rief daraufhin die CSU auf, das umstrittene Vorhaben vor der Landtagswahl am 28. September 2008 nicht mehr auf die Tagesordnung zu setzen. Sie sagte, das Gesetz enthalte viele Bestimmungen, »die sehr einschüchternd wirken auf alle Bürger, die sich versammeln wollen«.
Aber von einer Vertagung bis nach der Wahl wollte die CSU, die derzeit noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Landtag hat, nichts wissen. Angesichts schwacher Umfragewerte des neuen Führungsduos Huber/Beckstein war die CSU bemüht, ihre »Kernkompetenz« als Law-and-order-Partei herausstellen, um bei ihrer konservativen Stammwählerschaft zu punkten. Nach zahlreichen Flops (Finanzdesaster bei der Landesbank, Fiasko mit dem Transrapid, mißglücktes Nichtraucherschutzgesetz, Verärgerung ländlicher Wähler wegen Einschränkung der Pendlerpauschale) wollte die CSU Handlungsfähigkeit in Sachen innere Sicherheit zeigen. Nur als Sicherheitsgesetz, nicht als die Freiheit sicherndes Gesetz war das bayerische Versammlungsgesetz angelegt. Es wäre eine weitere politische Niederlage gewesen, wenn die Staatsregierung den Entwurf zurückgezogen hätte. Also wurde er zum Abschluß der Legislaturperiode – mit einigen Änderungen gegenüber dem Ursprungsentwurf – vom Landtag abgesegnet.
Demnach sind Demonstrationen künftig in der Regel mindestens 72 Stunden vorher anzumelden. Die Veranstalter sollen den Behörden detaillierte Angaben machen, wie viele Teilnehmer sie erwarten und wie die Demonstration verlaufen soll. Bei Verstößen und bei Abweichungen vom geplanten Ablauf drohen den Veranstaltern und Versammlungsleitern Geldbußen oder sogar Strafen. Da die Regelungen wenig übersichtlich sind, geht jeder, der sich als Veranstalter oder Versammlungsleiter zur Verfügung stellt, ein beträchtliches persönliches Risiko ein. Datenschutzrechtlich bedenklich ist schließlich die Befugnis der Polizei, alle Demonstranten in Übersichtsaufnahmen zu filmen.
Die bayerische Staatsregierung glaubte, ein starkes Argument auf ihrer Seite zu haben: In Bayern häufen sich neonazistische Aufmärsche. Solchen Kundgebungen, wie sie am Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudol Heß im oberfränkischen Wunsiedel üblich waren, müsse man doch entgegenwirken, argumentierte die Staatsregierung. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß auch couragierte Kämpfer gegen die Rechtsextremisten sofort durchschauten, daß verschärfte gesetzliche Bestimmungen ein behördliches Instrumentarium gegen alle Demonstrationen und nicht etwa nur gegen Neonazis sind. »Davon können auch friedfertige und gerechtfertigte Aktionen der Zivilgesellschaft betroffen sein«, befand beispielsweise Michael Helmbrecht vom Bürgerforum Gräfenberg – einer Bürger-initiative, die kürzlich einen Preis für Zivilcourage erhalten hat, weil sie sich mit Erfolg gegen NPD-Umtriebe wendet.
Somit hat die Staatsregierung unfreiwillig ein Bündnis befördert, das so unterschiedliche Gruppierungen wie Gewerkschaften, Oppositionsparteien, die Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in Bayern, den Bayerischen Journalistenverband, den Bund der Deutschen Katholischen Jugend, den Bund Naturschutz Bayern, attac München oder die Humanistische Union Südbayern in der Ablehnung des bayerischen Versammlungsrechts eint.
Sogar Befürworter der Neuregelung wie Dirk Heckmann, Professor für öffentliches Recht an der Universität Passau und Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, zeigten sich teilweise skeptisch: »Es bestehen verfassungsrechtliche Risiken, was die neuen strafbewehrten Formvorschriften betrifft. Dies könnte einen der Versammlungsfreiheit abträglichen Abschreckungseffekt haben.« Heckmann war von der CSU als Sachverständiger benannt worden. Er führte in seinem Gutachten für den Landtag aus, es stehe »weniger die eine oder andere Formvorschrift in Frage, sondern das zugrunde liegende Konzept des staatlichen Versammlungsmanagements«.
Genau das ist der entscheidende Punkt. Denn es mag zu jeder Detailbestimmung des bayerischen Versammlungsrechts eine Begründung geben, die tüchtige Ministerialbeamte sorgfältig formuliert haben. Aber die Gesamtwirkung zielt auf Abschreckung. Der Gesetzgeber sollte jedoch ermutigen, Grundrechte wahrzunehmen, und nicht von ihrem Gebrauch abhalten.
Deshalb braucht man kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, daß ein solches Gesetz am Ende vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird. Bayern sieht sich selber in der Rolle des Vorreiters für andere Bundesländer. Gerade um Nachahmungen vorzubeugen, muß das bayerische Gesetz in Karlsruhe auf den Prüfstand. Mit dem Geist des Brokdorf-Beschlusses von 1985 läßt es sich kaum in Einklang bringen.
Ossietzky-Autor Max Stadler (FDP), bayerischer Bundestagsabgeordneter, ist Vorsitzender des Arbeitskreises Innen- und Rechtspolitik seiner Fraktion