Zuweilen wird man aus verschiedenen Gründen nach seinem Lebenslauf befragt. Leute, die sich nicht alles merken können, was die Befrager von ihnen wissen wollen, erfinden dann einen behördengerechten Lebenslauf, was riskant wird, falls eine Amtsfigur im Aktenhefter frühere ganz unterschiedliche Lebensläufe entdeckt. Ich stütze mein wackliges Gedächtnis darauf, daß man in der Folge seines Daseins oder Hierseins immer wieder anders genannt wird. Die Namen, die mir zeitweilig gegeben wurden, lassen mich also an Stationen meiner Existenz denken.
Nachdem mich meine Mutter bei der Einschulung dem Chef der Bildungsanstalt vorgestellt hatte, titulierte mich der Rektor wegen meines Geburtsmonats als seinen »kleinen Maikäfer«. Leider konnte ich nicht mal fliegen.
Später nannte uns die zuständige Einmaleins-Meisterin »liebe Rechenfreunde«. Heute, da jeder rechnen muß, wurde auch ich zwar ein Freund des Rechnens, die Rechenkunst aber niemals meine Freundin. Ansonsten war man schlechthin »Schüler«, und in bombenkriegsfernen Evakuierungsquartieren der »Kinderlandverschickung (KLV)« hieß uns der Lagerleiter seine »Lagerkameraden«. Manchmal fühlten wir uns wie Kameraden, ein andermal wie Insassen.
Eines Tages hörte ich, wie der mit umknöpfbaren Stiefelschäften verkleidete Chef-Lagerist auf dem Nachbarhof seinen uniformierten Untertanen die Post übergab. »Was muß ich denn hier lesen?! Herrn Egon Schwardke? Herr? Unglaublich! Wir sind hier keine Herren. Wir sind hier allesamt stramme Jungmannen! Ist das klar?« – »Jawohl, Herr Lagerführer!« Da freute sich der stramme Altmann, aber nur ganz kurz, denn die damaligen Mannen waren nicht nur stramm, sondern auch bierernst.
Später erfuhr ich zufällig Altmanns Namen, er hieß: Studienassessor Quittkatt.
Vor den Belehrungen in einem »Reichsausbildungslager (RAL)« bewahrte mich die eigenmächtige Entfernung von der dortigen Azubi-Truppe sowie zuvor schon der Umstand, daß mehr als siebenhundert RAL-Teens mit dem klassischen Karabiner vertraut gemacht werden sollten, wozu den fünf oder sechs Ausbildern ein einziges Karabiner-Exemplar zur Verfügung stand, das übrigens keinen besonders klassischen Eindruck machte, wie jemand behauptete, der die Waffe angeblich schon mal gesehen hatte. Also konnte ich kein Carabiniero werden.
Im Zweiten Weltkrieg wurde ich auch nicht Luftschutzwart, sondern bloß Luftschutzraumgast, der wegen lauten Schnarchens nach oben geschickt wurde, »ob es schon brennt«. Bevor es kurz danach wirklich und wirklich furchtbar brannte, hatte ich in den Speisekammern hinter den geöffneten Parterre-Wohnungstüren etwas Schnell-Imbiß beschlagnahmt und konsumiert. Luftschutz ist keine moralische Einrichtung.
Der Hunger blieb in den ersten Nachkriegsjahren an unserer Seite. Die alliierten Besatzungsmächte leisteten einen wichtigen Beitrag zu seiner Austreibung. Der sowjetische Generalmajor Alexander Kotikow, am Sieg über Hitlers Armeen als Befehlshaber beteiligt, wurde 1946 Kommandant im Berliner Sowjet-Sektor. Er verfügte eine zusätzliche »Essensausgabe an die Produktionsarbeiter der Berliner Betriebe und an die Berliner Schuljugend«. Die damals knurrenden Mägen der Abitur-Kandidaten in unserer Max-Planck-Oberschule, Auguststraße, dürften sich noch gut daran erinnern, daß wir alle auch mal »Kotikow-Esser« waren.
Kurze Zeit darauf konnten sich Kulturschaffende manchmal ein Pajok abholen. Ich gehörte zu denen: als Redakteur beim Ulenspiegel, Zeitschrift für Kunst, Literatur und Satire.
Einen Gutschein teilte ich mit dem wunderbaren Martin Kessel, Mitglied des Ulenspiegel-Kollegiums, Dichter, Essayist und Romancier von europäischem Rang, in früheren Jahren Laureat des Kleist-, später auch des Büchner-Preises. Also der Dr. Kessel und ich zuckelten zur Greifswalder Straße, unweit der jetzigen Ossietzky-Redaktion, wo in dem schlichten Laden von Butter-Pless die Pajoks dargereicht wurden. Wir hatten nur einen Bon für uns beide, und der liebe Dr. Kessel konnte einen kleinen Lachanfall kaum meistern, als der Butter-Wart laut, aber würdig fragte: »Sind beide Bedarfsträger anwesend?« Das Pajok war ein kleines Konglomerat von Zucker, Mehl, Butter, Wurst und anderen Begehrlichkeiten.
Noch heute lebt in mir die Erinnerung an den klugen und heiteren Martin Kessel (1901–1996), und sorgfältig verwahre ich seine feinen Bücher. Eines mit der Widmung: »Sonderbar wäre die Welt beschaffen, wenn sie nichts weiter wäre, als wofür ein jeder sie hält. Dem Bedarfsträger Kusche mit herzlichen Grüßen vom Bedarfsträger Kessel.« Das war 1948.
Neulich kriegte ich eine Spritze gegen Zeckenbisse. Im amtlichen Impfzeugnis wurde ich zum »Impfling« ernannt.
Wer weiß, was aus einem ollen Bedarfsträger noch alles werden kann! Also: Abwarten und Eterni-Tee trinken.