An keine anderen Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts erinnert in der Öffentlichkeit so viel wie an die Weltkriege, vorzugsweise in Kirchen oder auf Friedhöfen in deren unmittelbarer oder entfernterer Nachbarschaft. Viele dieser Stätten des Gedenkens wurden während der Jahre der Weimarer Republik erbaut. So auch in der Bodenseestadt Lindau. Dort steht ein auf das Jahr 1000 zurückgehendes Gotteshaus, die Peterskirche. In der Kunstgeschichte erlangte sie Berühmtheit durch Fresken Hans Holbeins des Älteren, die Ende des 15. Jahrhunderts entstanden. Später genügte der Bau den Ansprüchen der gewachsenen Christengemeinde in der Stadt nicht mehr. Er wurde als Lagerraum und Werkstatt genutzt. Bis, so berichtet ein Lindauer Wegweiser, für ihn endlich wieder eine würdige Verwendung gefunden war. Der Innenraum, man schrieb das Jahr 1928, und das später als der Erste Weltkrieg bezeichnete Ereignis lag exakt ein Jahrzehnt zurück, erhielt die Funktion einer Krieger-Gedenkstätte. Wer ihn betritt, blickt auf eine liegende Figur, die einen »unbekannten Soldaten« symbolisiert, einen Kriegstoten. Da ist er entwaffnet hingestreckt, angetan mit einem wärmenden Mantel, das Koppel umgeschnallt, daran die Patronentaschen, den Stahlhelm vorschriftgerecht auf dem Kopfe. Ruhend, kein Zeichen von Schmerz. Er hat ausgekämpft. Eines der ungezählten tiefverlogenen Bildnisse, welche die tausendfach auf den Schlachtfeldern in Frankreich, Rußland, Serbien, Italien und auf den Weltmeeren gestorbenen elenden Tode verbergen.
An den Wänden der einstigen Kirche lassen sich die Namen der Bürger Lindaus lesen, deren Leben auf dem ersten Eroberungszug des deutschen Imperialismus endete. Länger noch sind die Namenreihen auf den Holztafeln, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an drei Wänden angebracht wurden. Zwei von ihnen nennen unter der irritierenden Überschrift »Heimatvertriebene« auch im Kriege umgekommene Angehörige von Menschen, die es erst als dessen Folge an den Bodensee verschlug. Ganz am Ende der Tafelreihe hängt eine mit besonderer Aufschrift: »Opfer des Nationalsozialismus«. Die Namen der dort Verzeichneten wurden nicht zum gleichen Zeitpunkt auf den hölzernen Untergrund geschrieben. Offenbar mußten sich die Einrichter erst klar werden, wen sie da zu benennen hatten. Hinter einem Namen ist ein Ort angegeben: »Auschwitz«. Die sich für diese »Lösung« entschieden, folgten einer eigenen Vorstellung von bewältigter deutscher Geschichte. Berliner werden sie nicht für eine Lindauer Spezialität halten, sondern sich an einen Ort in ihrer Stadt, die Wache Unter den Linden, erinnern, in der sich ein gleicher Geschichtsmix besichtigen läßt.
Lindaus Krieger-Gedenkstätte, lernt der Wanderer am Bodensee, ist keine deutsche Spezialität. Von da ist es nur ein kurzer Weg über die Grenze nach Österreich und dann nicht weit bis Hohenems. Die Christengemeinde dort hat direkt neben der Kirche, durch eine der Außenwände begrenzt, eine Stätte des Gedenkens geschaffen. Der in einem kapellenähnlichen offenen Raum hingestreckte Soldat ähnelt seinem Lindauer Kameraden zum Verwechseln. Hier haben es die Gestalter bei Namenreihen nicht belassen. In unübersehbaren Lettern läßt sich lesen: »Tote des Krieges, ewige Wächter des Friedens. Opfer der Zwietracht, doch heilige Mahner der Liebe. Blutsaat der Völker, doch Gärten kommenden Lebens in Gott.«
Solange vor solchen Denkmälern und derartigen Sprüchen an besonderen Gedenktagen – wie dem eben bevorstehenden 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs – Menschen zusammenkommen, ohne sich kritisch aus dem Nebel zu befreien, der über die Geschichte gebreitet ist, solange derlei Hinterlassenschaft nicht als Herausforderung angenommen wird, mit ihr ins Gericht zu gehen, so lange sollten diese Stätten besser gemieden werden. Das ist kein Plädoyer für ihren Abriß, sondern für ihre zeitgemäße Nutzung.