Armut, in den meisten Regionen vor allem der »Dritten« und »Vierten« Welt schon immer traurige Alltagsnormalität, hält seit geraumer Zeit auch Einzug in Wohlfahrtsstaaten wie die Bundesrepublik, wo sie zumindest als Massenerscheinung lange weitgehend unbekannt war. Die in der wohlhabenden, wenn nicht reichen Bundesrepublik stark zunehmende Armut wird jedoch nicht konsequent bekämpft, sondern von den meisten Politiker(inne)n, Publizist(inn)en und Wissenschaftler(inne)n noch immer geleugnet, verharmlost und verschleiert.
Mancherlei ökonomische Anzeichen deuten darauf hin, daß die Armutsrisiken für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in nächster Zeit weiter zunehmen. Die wachsende Armut wird die politische Agenda der Bundesrepublik im Gefolge der Weltfinanzwirtschaftskrise 2008/09 vermutlich stärker als je zuvor in ihrer über 60-jährigen Geschichte bestimmen. Dadurch verändern sich auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und strategischen Handlungsmöglichkeiten des Rechtsextremismus. Hier sollen die Krisenfolgen für Rechtsextremismus und Neofaschismus thematisiert werden, wobei Massenarbeitslosigkeit und -armut im Mittelpunkt stehen.
Damit wir den zeitgenössischen Rechtsextremismus genauer im politischen Raum verorten sowie seine Entstehungsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten beurteilen können, muß die Analyse auf drei Untersuchungsebenen ansetzen: der ökonomischen, der sozialen und der politischen. Hier wird deshalb für ein Erklärungsmodell plädiert, das von der Konkurrenz als entscheidender Triebkraft des kapitalistischen Wirtschaftssystems ausgeht und dadurch (mit)bedingte Veränderungen des sozialen Klimas genauso berücksichtigt wie die Traditionsbestände der politischen Kultur in Deutschland. Der organisierte Rechtsextremismus ist nicht bloß von ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren abhängig, die er kaum zu beeinflussen vermag, sein Erfolg oder Mißerfolg hängt vielmehr auch davon ab, ob er über geeignetes Personal verfügt, die »richtigen« Themen aufgreift und ob Strategie und Taktik der jeweiligen Situation entsprechen. Schließlich führen Arbeitslosigkeit und Armut nicht automatisch zu (mehr) Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt.
Seit die Bankenkrise mit dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 globale Dimensionen angenommen hat, deutet vieles darauf hin, daß sich die soziale Zerklüftung der Gesellschaft erheblich verschärfen wird. Man muß kein Prophet sein, um voraussagen zu können, daß mit der Arbeitslosigkeit auch die Armut im Gefolge der globalen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise stark zunehmen wird. Lohndumping fällt in Krisenzeiten leichter, so daß künftig noch erheblich mehr Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor angesiedelt sein dürften. Zu den fatalen Folgen der Weltfinanzwirtschaftskrise könnten eine auf Rekordniveau steigende Arbeitslosigkeit, die zunehmende Verelendung von Millionen Menschen, eine dramatische Verschuldung aller Gebietskörperschaften des Staates, also »öffentliche Armut« in einem vorher nicht bekannten Ausmaß gehören. Gleichzeitig wird sich der Reichtum wahrscheinlich noch stärker bei wenigen Kapitalmagnaten, Finanzinvestoren, Investmentbankern und Großgrundbesitzern sammeln, wenn nicht energisch entgegengesteuert wird.
Während die das Krisendebakel wesentlich mit verursachenden Hasardeure und Spekulanten mittels des beim Bund angesiedelten »Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung« (SoFFin) aufgefangen werden, müssen vermutlich einmal mehr die Mittelschicht, die Arbeitslosen und Armen jene Suppe auslöffeln, die Banker und Börsianer der gesamten Bevölkerung eingebrockt haben. Wenn die privaten Banken den für sie bürgenden Staat zur Kasse bitten und die Vermögenden ihn immer weniger mitfinanzieren, wird für die sozial Benachteiligten und die wirklich Bedürftigen kaum noch Geld übrig bleiben. Zusammen mit der im Grundgesetz verankerten, fälschlicherweise als »Schuldenbremse« bezeichneten Kreditaufnahmesperre führen Bürgschaften und Kredite in Milliardenhöhe zu überstrapazierten Haushalten, wodurch sich freilich »Sparmaßnahmen« leichter rechtfertigen und besser durchsetzen lassen.
Die neue Bundesregierung wird höchstwahrscheinlich der Versuchung erliegen, Kürzungen im Sozialbereich vorzunehmen, wo die Macht der Verbände gering ist und noch genug Haushaltsmittel zur Disposition stehen. Aufgrund der sich abzeichnenden harten Verteilungskämpfe um die knappen Finanzmittel des Staates dürfte das soziale Klima hierzulande erheblich rauher werden. Bereits seit geraumer Zeit mehren sich die Anzeichen für eine »härtere Gangart« gegenüber den Armen. Symptomatisch scheinen zwei Vorgänge zu sein, die sich im Frühjahr 2009 ereigneten: Am 27. März 2009 lehnte der Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU und SPD einen Antrag der Linkspartei ab, Arbeitsuchenden und Menschen mit Behinderungen die »Umwelt-« beziehungsweise Abwrackprämie in Höhe von 2.500 Euro für die Verschrottung eines Altautos beim Kauf eines Neu- oder Jahreswagens nach dem »Konjunkturpaket II« nicht auf die Grundsicherung oder die Eingliederungshilfe anzurechnen. Wie am selben Tag von der Stadt Göttingen bestätigt wurde, hatte ein Mitarbeiter des dortigen Sozialamtes einen Leistungsempfänger zu Jahresbeginn zweimal beim Betteln in der Fußgängerzone beobachtet und das in einer Blechbüchse gesammelte Geld (7,40 Euro) nachgezählt, woraufhin die Behörde diesen Betrag auf 120 Euro im Monat hochrechnete und seine Transferleistungen um diese Summe kürzte. Nach einem negativen Presseecho und einer Intervention des Oberbürgermeisters änderte das Sozialamt zwar seine restriktive Haltung, es ist aber damit zu rechnen, daß sich der Umgang mit sozial Benachteiligten, vor allem mit »aggressiven Bettlern« und »Asozialen« hierzulande in nächster Zeit verhärten wird.
Mit der US-Amerikanisierung des Sozialstaates durch die Hartz-Gesetze geht womöglich nicht nur eine US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Polarisierung von Arm und Reich sowie Pauperisierung großer Teile der Bevölkerung und Prekarisierung der Lohnarbeit), sondern auch eine US-Amerikanisierung der (sozial)politischen Kultur einher. Über die ganze Gesellschaft mit Ausnahme ihres eigentlichen Schlüsselbereichs, der Wirtschaftssphäre, erstreckt sich demnächst womöglich eine »Kultur der Kontrolle« (David Garland). Gesellschaftspolitisch bedeutet die Schwerpunktverlagerung von der Wohlfahrtsproduktion zur Regulation der Risikopopulation per Überwachung und Bestrafung, daß sich ein rigides Armutsregime etabliert.
Während so getan wird, als hätte die Regierung das Problem der kollabierenden Finanz- und Arbeitsmärkte im Griff, breitet sich die soziale Unsicherheit aus und transformiert man die Bundesrepublik zum »Sicherheitsstaat« (Joachim Hirsch). Zwischen dem Schwinden der staatlichen Autorität im ökonomischen Bereich, die im Gefolge der Finanzmarktkrise nunmehr erst wieder mühselig rekonstruiert werden muß, und ihrer Stärkung im Hinblick auf die Durchsetzung einer bestimmten Sozial- und Moralordnung besteht nur scheinbar ein Widerspruch. Auch in der Bundesrepublik scheint sich die gesellschaftliche Akzeptanz von Armut und sozialer Ausgrenzung während der letzten beiden Jahrzehnte erhöht zu haben, während die Akzeptanz der Armen selbst aufgrund des sich ausbreitenden Wohlstandschauvinismus, Sozialdarwinismus und Standortnationalismus zurückgegangen ist.
Massenarbeitslosigkeit und -armut, die zu den unvermeidlichen Begleiterscheinungen einer tiefen Erschütterung der Weltwirtschaft gehören, schaffen nicht bloß besser geeignete Rahmenbedingungen zur Errichtung eines neoliberalen Strafrechtsstaates und autoritärer Verwaltungsstrukturen, sondern auch weitere politisch-ideologische Zugänge zum Rechtsextremismus oder -populismus. Wenn sich in der tendenziell erodierenden Mittelschicht die Furcht ausbreitet, in den von der globalen Finanzmarktkrise erzeugten Abwärtssog hineingezogen zu werden, sind irrationale Reaktionen und Rechtstendenzen mehr als wahrscheinlich. Ohne historische Parallelen überstrapazieren und durch den Blick zurück die aktuelle Krisensituation dramatisieren zu wollen, denkt man unwillkürlich an die Weltwirtschaftskrise gegen Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre. Damals leiteten Bankpleiten und Börsenzusammenbrüche international den Niedergang von Unternehmen und riesige Entlassungswellen ein, die Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau sowie Not und Elend großer Bevölkerungskreise nach sich zogen, bevor der NSDAP und ihrem »Führer« Adolf Hitler am 30. Januar 1933 die Machtübernahme gelang. Der schnelle Aufstieg des Nationalsozialismus wäre ohne diese Rahmenbedingungen kaum möglich gewesen.
Ähnlich groß ist heute die Gefahr für die Demokratie, wenn der Sozialstaat erneut durch eine Weltwirtschaftskrise und einen drastischen Beschäftigungseinbruch unter Druck gerät. Nie gestaltet sich der geistig-politische Nährboden für Rechtsextremisten günstiger, als wenn diese auf die »Juden von der amerikanischen Ostküste« verweisen und den vom sozialen Abstieg bedrohten Gesellschaftsschichten geeignete Sündenböcke präsentieren können. Wenn sich bei der ohnehin erodierenden Mittelschicht die Furcht ausbreitet, in den von der Finanzkrise erzeugten Abwärtssog hineingezogen zu werden, sind irrationale Reaktionen und politische Rechtstendenzen mehr als wahrscheinlich. Davon könnte wiederum ein Signal an die Eliten ausgehen, das bestehende Gesellschaftssystem durch autoritäre Herrschaftsformen zu konsolidieren. Sofern das parlamentarische Repräsentativsystem in einer solchen Umbruchsituation scheinbar blockiert und durch seine Hilflosigkeit gegenüber Krisenerscheinungen der Ökonomie diskreditiert ist und die Politik der etablierten Parteien als von mächtigen Lobbygruppen korrumpiert gilt, haben rechtsextreme oder -populistische Gruppierungen Chancen, mehr Wählerstimmen als bisher wie auch eine größere außerparlamentarische Mobilisierungsfähigkeit und eine höhere Durchschlagskraft zu gewinnen. Umso notwendiger sind die Aufklärung der Öffentlichkeit über Hintergründe des Armutsproblems sowie eine Mobilisierung gegen die aktuellen Tendenzen zur Pauperisierung, sozialen Polarisierung und Prekarisierung.
Armut erweckt oft Mitleid oder auch ein schlechtes Gewissen, ruft aber selten massiven Protest hervor, den übrigen Menschen macht sie eher Angst. Deshalb muß Armut als Resultat eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems erkannt werden, das sich verändern läßt; aus solcher Erkenntnis können systemkritisches Bewußtsein, politisches Handeln und massenhafter Widerstand erwachsen. Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik können zwar die Not der Betroffenen lindern, aber kaum verhindern, daß die Kluft zwischen Arm und Reich fortbesteht und den inneren Frieden gefährdet. Armut wirksam zu bekämpfen, heißt nicht zuletzt, mit dafür zu sorgen, daß Strukturen sozialer Ungleichheit für immer beseitigt werden. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unbedingt erforderlich wäre ein Paradigmawechsel vom »schlanken« zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.
Armutsbekämpfung kostet enorm viel Geld: Da die im Zeichen der Globalisierung tendenziell zunehmende Armut mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einhergeht, ja geradezu dessen Kehrseite bildet, kann sie nur durch konsistente und miteinander kompatible Maßnahmen einer Umverteilung »von oben nach unten« beseitigt werden. Sinnvoll wäre die Wiedererhebung der nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von der CDU/CSU/FDP-Koalition zum 1. Januar 1997 ausgesetzten Vermögensteuer. Sie ist keineswegs abgeschafft, sondern steht nach wie vor in unserer Verfassung (Art. 106 Abs. 2 GG). Ihre Reaktivierung würde nicht bloß der Steuergerechtigkeit dienen, sondern könnte auch entscheidend dazu beitragen, die Bundesländer, denen sie zusteht, finanziell handlungsfähiger zu machen. An die Stelle des mit den hohen Kosten der Vereinigung begründeten Solidaritätszuschlages (für alle Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuerpflichtigen) müßte eine zeitlich befristete Vermögensabgabe für Kapitaleigentümer und Besserverdienende treten.
Daß mittlerweile sowohl Politiker unterschiedlicher Couleur als auch führende Ökonomen über die soziale Gerechtigkeit reflektieren, eröffnet die Chance eines stärker an der gesellschaftlichen Realität orientierten Diskurses. Das drängende Problem einer zunehmenden sozialen Ungleichheit als Gefahr für den inneren Frieden und die Demokratie läßt sich kaum mehr vertuschen. Unabhängig von Wahlkämpfen und parteitaktischen Winkelzügen sollte es die Öffentlichkeit über längere Zeit bewegen, denn die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe dürften sich zuspitzen, wenn über Jahre hinweg die Frage im Raum steht, wer die Kosten der Finanzmarktkrise und der Bankensanierung tragen muß
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Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine letzten beiden Buchveröffentlichungen zum Thema: »Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut. Befunde aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Opladen/Farmington Hills 2008; »Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird«, Frankfurt am Main/New York 2009