Die freie Gruppe »Antigone 2.0« versucht sich unsinnigerweise an Sophokles und nennt das Ergebnis »Ödipedia«. Das stimmte mich traurig. Ich quälte mich den weiten Weg nach Spandau und wurde noch trauriger. Die Darsteller hatten offenbar kein Geld für Kostüme, kamen zum Teil in Trainingsanzügen oder irgendwelchen Lumpen. Außerdem sorgten sie für Musik mit Gitarre, spielten auch ein wenig Tennis. Wie aber sollte der arme Ödipus (übersetzt Schwellfuß) Tennis spielen können? Dabei war das Projekt ehrgeizig: beide Teile der Sophokles-Tragödie: Nur »Antigone« hatten sie ausgelassen, dafür sollten irgendwelche Nutzer im Äther am Stück mitschreiben. Da kam ein entsetzlicher Unsinn zusammen, zumal man auch noch komisch sein wollte. Am Ende war alles nur noch peinlich!
Shakespeare, gespielt von der Company seines Namens. Die ging auf Nummer sicher und zeigte die populärste Comedy, die freilich auch die unzeitgemäßeste ist: »Die Zähmung der Widerspenstigen«. Die Inszenierung brachte alle Untugenden zum Vorschein, die das Stück hat, so deutlich, daß Macho-Herzen Vergnügen daran haben mußten. Es krachte vor Gags, man spielte auf Tempo und äußerliche Effekte, es wurde gelacht, aber wie. Die Textfassung von Christian Leonard bediente diese Veräußerlichung, und die Spielweise tat ihr Übriges, den untergründigen Ernst des Stückes zu unter-, seine gefährliche Balance zu überspielen. Regie führte Tom Ryser. Er hat kein Lob verdient.
Noch von einem zweiten Shakespeare ist zu sprechen, präsentiert vom Hexenkessel Hoftheater im Amphitheater des Monbijouparks. Daß sich freie Gruppen überhaupt mit Shakespeare beschäftigen, ist erfreulich, da die großen Häuser ihren Lehrmeister arg vernachlässigen, von der feinen Wilson-Produktion »Shakespeares Sonette« im Berliner Ensemble einmal abgesehen. An der Spree nun »Der Sturm«, des Dichters letzte Botschaft und Vermächtnis. Gut gemeint. Aber in diesem Hexenkessel tobte der Sturm nicht allzu heftig. Wenn ja, dann äußerlich. Die Weltdimension dieses Utopie-Dramas, seine großartige Philosophie war kaum zu spüren, geschweige denn zu denken. Immerhin: der Prospero von Andreas Köhler blieb im Gedächtnis – körperlich, sprecherisch, geistig.
Dieselbe Truppe im Monbijou spielte auch einen Goldoni, die herrliche »Mirandolina«, inszeniert ebenfalls von Jan Zimmermann. Ein Glücksfall war die Schauspielerin Wicki Kalaitzi. Da kam südliche Erotik auf, es quirlte und wuselte, und die Zuschauer hatten ihren Spaß, der von der Szene nur so herunterflog . Die »Bar Mirandolina« als szenischer Hintergrund tat das ihre, einen italienischen Sommer, gar eine Sommernacht herbeizuzaubern. Aber Vorsicht: Man kann des Guten zu viel tun, so daß es zuweilen überkippt. Die Kostüme: fantastisch, aber oft zu grell. Viel Vergnügen beim weiteren sommerlichen Spiel!
Theater nach Literatur macht auch immer wieder das von mir geschätzte »Theater 89«, diesmal nach Wassili Schukschins »Kalina Krasnaja«. Der Stoff, den man auch unter dem Titel »Schneeballstrauch im Herbst« kennen mag, hatte seine Metamorphosen: Erzählung, Film (mit dem Autor in der Hauptrolle ) und nun Theaterstück, eine Fassung des Ensembles, vom Chefregisseur Hans-Joachim Frank als Uraufführung inszeniert. Es geht um die Wiedereingliederung des Haftentlassenen Jegor Produkin in die Gesellschaft, wobei ihm Freundin Ljuba hilft, letztlich um Wahrheit, Wahrheit des Lebens. Diese Fassung ist spielbar, und das tapfere Ensemble um Angelika Perdelwitz und Bernhard Geffke, von großen Häusern her bekannt und bewährt, bringt sie gut über die Rampe.
Große Dichter schreiben in allen Gattungen, wenn auch nicht in jeder gleich gut. Thomas Mann, ein reiner Erzähler, hatte im Drama kein Glück, und auch Dramatisierungen waren selten und brachten keinen Zugewinn. Anders etwa bei Tolstoi, der Dramen schrieb und dessen Romane auf die Bühne gebracht wurden, Dostojewski schrieb nicht fürs Theater, aber seine Texte wurden oft dramatisiert. Das gilt auch für Joseph Roth, besonders für seinen Roman »Hiob«. Koen Tachelet und Johan Simons aus Gent haben es wieder versucht und siehe da: Roths Hiob, der Lehrer Mendel Singer, wurde zur Bühnenfigur. Die Münchener Kammerspiele zeigten diese Produktion in Berlin. Eine konfliktstarke Inszenierung auf beträchtlichem Niveau. Roths Siegeszug hält an.
Eine Erzählerin von Rang, die es auch immer wieder zur Bühne zieht, ist Elfriede Jelinek, zum dritten Mal »Dramatikerin des Jahres«. Ihre Stücke werden trotz ihrer bedrückenden Schwere immer wieder inszeniert. Uraufgeführt wurden jüngst in Köln »Die Kontrakte des Kaufmanns« durch Nicolas Stemann und in München »Rechnitz (Der Würgeengel)« durch Jossi Wieler. Das letzte Stück handelt von einem Massaker an 200 Juden sieben Wochen vor der bedingungslosen Niederlage des NS-Regimes: Am 25. März 1945 feierten auf dem Schloß der Grafen Batthyány an der österreichisch-ungarischen Grenze SS, Gestapo, Horthy-Faschisten und nämliche Grafen eine Untergangsorgie, die in den Massenmord mündete. Margit von Batthyány war eine geborene Thyssen-Bornemisza, Enkelin des Rüstungsmagnaten Thyssen. Alle waren in den NS-Genocid verwickelt und flohen. Die Batthyánys wurden nie bestraft. Das Massengrab ist bis heute nicht gefunden worden, so daß nicht einmal die Toten geehrt werden konnten. Im Dorf Rechnitz schweigt man, es heißt dort: »Die Juden haben eine Klagemauer, wir haben eine Schweigemauer.« Ein echter Jelinek-Stoff, der seine Bühne gefunden hat, auch als Gastspiel in Berlin, im Mai im Hebbel am Ufer (HaU). Höchsten Respekt!
Wir nähern uns den festen Häusern. Am Anfang stehe das Gripstheater, das sich einst aus einer Gruppe zu einer Institution entwickelt hat. Zweimal führte mich mein Weg im vergangenen Halbjahr dorthin, zuerst zu »Rosa« ins bekannte Haus im Hansaviertel, dann in die neue Spielstätte im Podewil zu »Lilly unter den Linden«. Über Rosa Luxemburg gab es neben den wissenschaftlichen oder essayistischen Biografien wie denen von Luise Kautsky (1929), Max Gallo (1993) und Annelies Laschitza (2000) schon den Film von Margarethe von Trotta (1986) und auch das Stück mit Liedern »Die Utopie der Rosa Luxemburg« von Walter Hollenweger, Estella Korthaus und Johanna Arndt (2002) – doch ein richtiges Theaterstück? Das schrieben nun Volker Ludwig, der Leiter des Gripstheaters, und Regisseurin Franziska Steiof. Ein Stationendrama mit 30 Szenen und sehr viel Historie in dreiundeinhalb Stunden. Man konzentrierte sich auf Parteitagsauftritte (da kommt ihre glänzende Rhetorik vor und an), Gerichtsszenen und ihr Liebesleben. Ihre politischen Theorien und Ziele sind wohl halbwegs richtig formuliert, ihr Menschsein und ihre revolutionäre Haltung ergreifen das Publikum, auch ihr zärtliches Frausein. Doch man merkt, wie schwer es Regina Seidler fällt, diese Rolle zu spielen. Die Kampfrichtung gegen den Imperialismus erscheint klar – doch etwas bleibt matt und dröge: die Auseinandersetzung mit der SPD, genauer: den SPD-Männern. Gerade da müßte es doch pfeffern, nachdem diese Partei in der Zwischenzeit noch matter und dröger geworden ist. Tempo – eher zu schnell – macht noch keine politische Schärfe. Vielleicht könnte sich das bei einer Neuaufnahme verbessern – der Stoff, diese große Person der deutschen Arbeiterbewegung, die tragische Jüdin haben es verdient.
Nun zur zweiten Spielstätte des Grips im Podewil. Anne C. Voorhoeve hat »Lilly unter den Linden«, ein Ost-West- wie auch Jugendstück (nach einem Roman und einem Drehbuch unter gleichem Titel) für »Menschen ab 13« geschrieben. Das Waisenkind Lilly lebt in Hamburg, geht nach einem Besuch ihrer Osttante Lena ebenfalls in den Osten. Die entstehenden Konflikte kann man sich denken. Philippe Besson inszeniert das ganz artig und sehr heutig, was niemanden stören wird – diese Geschichte ist noch nicht historisch, die Lebensformen und Inhalte haben sich kaum geändert. Die fünf Darsteller für immerhin elf Rollen beherrschen ihr Handwerk, spielen flott, leider zu unernst. Man lachte und gab Beifall. Das Stück wird lange gespielt werden.