»Überall im Lande ticken Zeitbomben« verkündete die FAZ am 7. August 2010. Erklärend fügte sie hinzu: »Jedes Mal, wenn sich in diesen Wochen eine Stahltür öffnet und ein gefährlicher Straftäter aus der Sicherungsverwahrung in die Freiheit geschubst wird, steigt das Risiko, daß es zu einem Mord oder einer Vergewaltigung kommt.« Ganz schön gruselig. Vielleicht sollte man den Entlassenen besser nicht schubsen. – Indem ich mir weitere Scherze verkneife, die Herr Peter Carstens mit seiner Schilderung provoziert, möchte ich folgendes in Erinnerung rufen: Die Sicherungsverwahrung wurde in der Nazizeit durch ein Gesetz vom 24. November 1933 eingeführt. Das erscheint mir verdächtig, aber der Kommentar sagt, es sei ganz unverdächtig, schon im 19. Jahrhundert sei der Strafrechtslehrer Franz von Liszt für eine solche Regelung eingetreten.
Die DDR war dagegen. Das Oberste Gericht erklärte durch Urteil vom 23. Dezember 1952 die Maßnahme für nicht mehr anwendbar, weil faschistisch. Auch beim Beitritt wurde die Sicherungsverwahrung nicht in den neuen Bundesländern eingeführt. Das geschah erst ab 1. August 1995.
Bei einer derartigen Entwicklungsgeschichte erhebt sich fast automatisch die Frage: Hat die Sicherungsverwahrung ihren Zweck erfüllt? Sind im Deutschen Reich vor 1933 viele Zeitbomben detoniert? Und wie war es in der DDR und von 1990 bis 1995 in den neuen Bundesländern? Das sagen uns die vielen klugen Artikel zu diesem Sommerloch-Thema merkwürdigerweise nicht. Die DDR kommt ohnehin nicht vor. Die existiert in der Kriminologie ebenso wenig wie in der Pädagogik oder im Gesundheitswesen. Was kann da schon gewesen sein?
In dem 1966 erschienenen Sammelband »Sozialistische Kriminologie« von Buchholz, Hartmann, Lekschas hieß es dazu: »Der Nazi-Staat und seine Theoretiker unter den Juristen glaubten, daß Gesinnungsverfolgung, Todesstrafenterror und langfristige Einsperrungen in Gestalt der Sicherungsverwahrung, die in einer Masse von Fällen mit der Einweisung in ein Konzentrationslager endeten, die geeigneten Mittel seien, der Kriminalität Herr zu werden. Aber auch diese bereits selbst ins Verbrecherische umschlagende ›neue Kriminalpolitik‹ brachte keinerlei Erfolg. Sie trug nur dazu bei, daß sich die Verbrechen vermehrten.«
Seit 2004 kann die Sicherungsverwahrung nicht nur im Strafurteil selbst, sondern auch nachträglich im gesonderten Verfahren angeordnet werden. So sollte es auch gegen Verurteilte geschehen, die ihre Tat schon vor 2004 begangen hatten. Das ging dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg zu weit. Er urteilte am 17. Dezember 2009, daß die Regelung von 2004 auf »Altfälle« nicht angewendet werden könne, da dies gegen das Rückwirkungsverbot verstoße. Dem schloß sich der Bundesgerichtshof an. Große Aufregung, die Zeitbomben fingen an zu ticken.
Immer wieder das Rückwirkungsverbot. Die Nazis hatten es nicht respektiert. Der bundesdeutschen Justiz kam es in den Verfahren wegen »Regierungskriminalität« in die Quere. Alle Gerichte bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht erklärten dieses Verbot für nicht anwendbar. Das Bundesverfassungsgericht argumentierte: »Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG (das Rückwirkungsverbot; d. Verf.) muß dann zurücktreten. Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten.« Das konnte der Europäische Gerichtshof nicht mitmachen. Er ließ zwar die Urteile gegen die DDR-Kommunisten bestehen und behauptete schlicht, die Schüsse an der Mauer seien auch schon zu DDR-Zeiten strafbar gewesen. Die dummen deutschen Richter hatten das nur nicht erkannt. So blieb das Rückwirkungsverbot unangetastet. Alles eine Frage der Auslegung.
Die Nazis brauchten also die Sicherungsverwahrung, und die BRD braucht sie auch. Ein kleines Problem, aber ein Symptom für Grundsätzliches, das sich von den Medien unbemerkt peu à peu in unserem Land vollzieht. Die Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft berichtet in ihrer Ausgabe 2 aus 2010 unter dem sehr wissenschaftlichen Titel »Von der Rationalität des Rechts in die Irrationalität der Sicherheit« und dem weniger wissenschaftlichen Untertitel »Reflexionen über Widerstandsformen in Sicherheitsgesellschaften« von einer Podiumsdiskussion, die dieses Problem zum Gegenstand hatte. Anlaß der Diskussion war das Erscheinen des Buches von Peter-Alexis Albrecht »Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft«, 1040 Seiten, Berliner Wissenschaftsverlag 2010. Albrecht spricht darin von der Erosion des Rechtsstaats. In der Diskussion führte er unter anderem aus: »Das Präventionsstrafrecht war nicht das Ende einer Entwicklung. Mit dem 11. September 2001 vollzog sich nicht nur eine Verschärfung, vielmehr tat sich ein qualitativ neues Ziel für die Gesellschaft insgesamt auf. Der Sicherheit wurde Priorität vor der Freiheit eingeräumt. Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft ist Ausdruck von Transformationsprozessen im Rahmen von massiven Strukturproblemen der postmodernen Weltgesellschaft. Welcher Art sind diese Strukturprobleme? Offenbar sind es ökonomische Umwälzungen und damit einhergehende Verschiebungen in der Funktion des Staates, worauf der sozio-kulturelle Überbau reagiert.«
Weiter erklärte der in Frankfurt am Main lehrende Strafrechtswissenschaftler: »Die Politik des Westens suchte nach Antworten auf die Herausforderungen einer kollabierenden Welt.« Und zum Schluß: »Gelingt es nicht, die Irrationalität der Sicherheit – dieses wuchernde Krebsgeschwür im Recht – aufzulösen, droht ein Chaos ungezügelter Gewalt, wie es uns aus jüngster Vergangenheit und Gegenwart deutlich vor Augen stehen sollte.«
Dort ticken die Bomben, hier droht ein Krebsgeschwür. Schöne Aussichten.