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Titel1710

Todestunnel und Lebenshalde  (Ulrich Sander)

Unser alter Peugeot machte es nicht mehr. Das Feriengeld ging für die Reparatur drauf. Wir blieben in Dortmund und folgten dem Ruf Herbert Grönemeyers »Kooomm zur Ruhr«.

Zuerst: der Dortmunder Westfalenpark. Eine einzigartige Parklandschaft mit Teichen, Bächen, Hügeln, Rosenfeldern, begrenzt von den Resten der Hörder Hochöfen. Am Fernsehturm Florian war die Werbung für eine süß-braune Brause zum Glück endlich verschwunden. Lange Zeit hatte ich vermutet, man werde noch Auswuchtungen am Turm anbringen, um die typische Flaschenform zu schaffen. Angebracht wurde dann eine Absprungplattform für das Bungeespringen, doch deren Überreste hatte man in diesem Sommer endlich auch abmontiert. Der Rest sah wie ein Galgen aus. Er erinnerte an den Tod eines Bungeespringers vor sieben Jahren. Da war ein Herr Schweitzer aus dem Süden angereist, der ein selbst fabriziertes Gummiseil anbrachte und die Leute, an den Beinen gefesselt, nach Zahlung eines beträchtlichen Betrages abspringen ließ. Das Seil riß. Nach dem Todesfall ist es bis heute nicht zu einem Gerichtsverfahren gekommen. Herr Schweitzer handelte privat. Privat geht vor Staat. Profit geht vor Sicherheit.

»Privat vor Staat« war fünf Jahre die Hauptlosung des schwarzgelben Koalitionsvertrages im Lande NRW. Gegen Ende dieser Koalition kam wieder ein Herr aus dem Süden, ein Herr Schaller, und redete der Landesregierung und
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Der Event-Schwindel
Inzwischen haben es »Love«-Firma und Stadtverwaltung kleinlaut eingestanden: Die großmäuligen Zahlenangaben bei der Ankündigung der Parade in Duisburg waren ein Werbeschwindel. Und nun geht es weiter mit dem Hin- und Herschieben des Schwarzen Peters. Die Stadt, die Polizei, Mr. McFit – wer war verantwortlich für die »Sicherheitslücke«? Politiker zeigen mit ausgestreckter Hand auf den Duisburger Oberbürgermeister, er bietet sich wegen Unbeholfenheit im Umgang mit Medien als Bauernopfer an. Aber wie viele Finger zeigen zurück auf die politischen und medialen Platzhirsche? Der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident, die jetzige Ministerpräsidentin, der »Ruhr«-Metropolist Fritz Pleitgen – sie alle waren ganz heiß auf das »jugendkulturelle Großereignis«, das dann zur Death-Parade wurde.

Jugendkultur, Raum gebend für Phantasie und Spontaneität? Längst hatte das Spektakel solche Eigenschaften verloren, es diente nun, wie sein Gründer »Dr. Motte« zu Recht kritisierte, »kommerzieller Verwertung«, der »Werbung für eine Marke«. In Duisburg zeigte schon das räumliche Konzept für die Veranstaltung, was aus einem grenzenlosen Spaß der Techno-Subkultur geworden ist: Event-Konsum, eingezäunt, dem Marketing der Betreiberfirma und der Kommunal- sowie Landespolitik dienlich.

Im Ruhrgebiet hat nicht nur die Stadt Duisburg massive soziale Probleme am Hals. Der Abbau der Altindustrien hat Ödflächen und Massenarmut hinterlassen. Seit den Regierungszeiten des damaligen SPD-Politikers Wolfgang Clement versuchen hier Sozial- und Christdemokraten, Freidemokraten und Grüne, nachindustrielles Elend durch »kreativwirtschaftliche« Auftritte zu überdecken. Gleichzeitig wird »gespart«, gerade auch an alltäglichen kulturellen Angeboten für Jugendliche. Wenn das »first life« für junge Leute trist ist, braucht es Kompensation im »second life«, Super-Sensationen, hochgeschwindelte, die den Medien Stoff bieten und den Politikern Profilierungschancen. Als »Jahrmarkt der Eitelkeiten« hat der Ruhrgebietskenner Roland Günter, Vorsitzender des Deutschen Werkbundes, diese Art von Kulturmanagement beschrieben. Mit Jugendkultur im Sinne von Selbstbestimmung, Erfahrungslernen und Lust an eigener Aktivität hat die Event-Politik nichts im Sinne. Mega-Schwindler waren hier tätig, nicht allein bei den Besucherzahlen. Sie ließen paradieren, zum Wohle ihres Geschäfts und ihres politischen Prestiges. Das ging diesmal schief.

Peter Rath-Sangkhakorn

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dem Duisburger Oberbürgermeister ein, daß eine Loveparade gerade das Richtige für diesen Standort sei; denn wenn schon Arbeitsplätze fehlen, dann soll es wenigstens Freizeitplätze geben. Der einzige Zugang zum Gelände der Loveparade bestand aus einem langen, nicht in Zu- und Abgangsweg getrennten Tunnel, in den 30.000 Menschen passen. Das Fünffache an Besuchern sollte den Tunnel in einer Stunde durchqueren, das heißt, die Verweildauer, so die Genehmigungspapiere, sollte zehn Minuten betragen. Die Menschen kamen aber viele Stunden lang nicht voran und nicht zurück. 21 starben im Gedränge, 500 wurden schwer verletzt.

Die Braunen sagten einst: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Das war gelogen. Die Schwarzgelben sagten: Privat vor Staat. Das meinten sie ganz ernst. Kein Aktenordner durfte mehr von den Kommunen beschafft werden, die mußten einen Privaten damit beauftragen. Eine gewaltige Bürokratie entstand, um aufzupassen. Nur die Sicherheitsbestimmungen in Duisburg mißachtete sie. Der private Herr Schaller durfte machen, was er wollte. Er machte eine Riesenreklame für seine Muckibudenkette McFit. Eintritt frei, Tod und Leid inbegriffen.

2006 wurde Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 ernannt. Die Kampagne »Ruhr 2010« begann. Die Leute aus dem Pütt als Gastgeber machen es gut. Hier ist schon lange weniger Fremdenhaß als anderswo anzutreffen. Es sei denn, man haßt sich untereinander: Schalker gegen Borussen und umgekehrt. »Ruhr 2010« soll Land und Leute sympathisch zeigen. Wenn endlich der Psychokampf zwischen Gelsenkirchen und Dortmund aufhörte, wäre viel gewonnen. Es gab Ansätze dazu. So beim größten Chor der Welt, der im Rahmen der »Ruhr 2010« in der Schalker Arena auftrat. Alles Leute von hier. Ein Erlebnis. Rührselig sangen alle gemeinsam das Bergarbeiterlied vom Steiger, der kommt und »das Leder vor dem Arsch« trägt.

Einst gab es 140 Zechen im Ruhrgebiet mit 485.000 Beschäftigten, heute sind es noch vier mit 21.000 Bergleuten. Vom einstigen Ruhrbergbau künden die inzwischen begrünten Abraumhalden. Das Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop liegt am Fuße der Halde an der Beckstraße. Dieselbe Adresse hat das Alpin-Center Bottrop, die weltweite längste Skihalle (640 Meter inklusive Kurven) am Fuße der Halde, über deren Gipfel der Tetraeder ragt, ein 50 Meter hohes Kunstwerk aus Stahl und Aluminium. Es steht da schon einige Jahre, aber erstmals steigen wir in diesen Ferien hinauf. Wiederum ein wirkliches Erlebnis, ich sag mal nicht Event. Das ganze Ruhrgebiet ist zu sehen, viel mehr Grün als Grau.

Die Tour geht weiter zum »Schönsten Museum der Welt«, wie sich das Folkwang-Museum in Essen für einige Wochen nennt, in denen der Bestand aus dem Jahre 1933 wiederhergestellt ist. Die Nazis hatten ihn zerschlagen.

Anderntags besuchen wir die ehemalige Zeche Zollverein, das heimliche Zentrum der Kulturhauptstadt. Weltweit bekannt ist inzwischen die Rotlicht-Rolltreppe zum Ruhr-Museum. Wo früher Steinkohle gewaschen wurde, findet man jetzt die Regionalgeschichte von Kohle, Stahl und Gesellschaft nachgezeichnet. Wer genau hinsieht, kann auch Andeutungen von Herrschaftsverhältnissen erkennen. Fast auf den Bauch muß ich mich legen, um die Exponate über Ernst Achenbach (Kriegsverbrecher, Krupp-Vertrauter und später FDP-Politiker) und Werner Best (Stinnes-Vertrauter aus Mülheim, Hitlers Putsch-Planer und NS-Diktator von Dänemark) zu erkennen. Das Museum erinnert auch an Widerstandskämpfer von der Ruhr. Aber es ist zu wenig, was da vom Widerstand der Arbeiter gegen Hitler und vom Paktieren der Unternehmer mit Hitler gezeigt wird.

Erkennbar wird: Mit der übermächtigen Kraft der Ruhrindustrie, ihrer Schlüsselgewalt über Krieg und Frieden ist es vorbei. Daß Ruhr-Kohle und Ruhr-Stahl an Bedeutung verloren haben, mag beruhigend auf den wirken, der sich vor einem Wiederauferstehen deutscher imperialistischer Autarkiebestrebungen fürchtet. Doch es sei beachtet: Krupp, nun mit Hoesch und Thyssen zu ThyssenKrupp vereint, mischt beim U-Boot- und Panzerbau wieder mit – mittels Subunternehmen. Nach den Schwüren von 1945 hätte es niemals mehr dahin kommen dürfen. Ob deutsche Kriegstreiberei nun auf dem deutschen Sonderweg vorankommt oder auf dem Weg der Eingliederung in EU und NATO – in jedem Fall bleibt sie brandgefährlich.

Als trauriger Höhepunkt von »Ruhr 2010« wird die Duisburger Katastrophe vom 24. Juli in Erinnerung bleiben, als fröhlicher Höhepunkt hingegen das RuhrStillleben vom 18. Juli. Von drei Millionen Bewohnern des Ruhrgebiets war an diesem Julisonntag rund die Hälfte auf der Schnellstraße B 1/A 40 zu Fuß oder per Rad unterwegs. Auf 60 Kilometern von Duisburg bis Dortmund war die Autobahn beidseitig gesperrt, stillgelegt. Zwei Spuren waren – je eine in Richtung Duisburg und in Richtung Dortmund, also nicht so verbrecherisch geregelt wie eine Woche später im Duisburger Karl-Lehr-Tunnel – für Radfahrer freigehalten. Eine Spur für Tausende Tische und Schirme und Bänke mit Kunst und Kultur aus dem Alltag. Eine weitere für Fußgänger. So viel Engagement der Menschen aus dem Ruhrgebiet hatte man seit langem nicht erlebt, eigene Ideen und Aktionen, Essen und Trinken und Malerei und Musik. So viel Ehrenamt und Uneigennützigkeit für die Heiterkeit eines Sommertages auf der dafür eigens stillgelegten B1/A40.

Zur Freundlichkeit der Menschen an der Ruhr gehört auch die Freundlichkeit der kleinen Leute gegenüber denen, die sie nicht verdient haben. Das war aber nicht immer so. Ich denke an den 14. Februar 1997, den Tag, an dem der Ruhrschnellweg B1/A40 schon einmal gesperrt war. Es war eine spektakuläre Demonstration, eine mehr als 90 Kilometer lange Kette mit 220.000 Menschen, die ein Mahnzeichen »Band der Solidarität« in Richtung Bonn richteten, wo die Kohlegespräche der Konzerne und Regierenden stattfanden. Es ging um den Erhalt des Steinkohlebergbaus und um die Arbeitsplätze der Stahlarbeiter, besonders jener aus dem östlichen Ruhrgebiet. Ein letztes Aufbäumen. Schon in den Jahren 1960 bis 1994 hatte sich allein in Dortmund die Zahl der Industriearbeitsplätze von 127.000 auf 37.000 verringert, und so ging es weiter. Aber es gab auch Widerstand. Bei der Besetzung des stillgelegten Ruhrschnellwegs 2010 war nur noch Frohsinn zu spüren. Gut, daß kein Trübsinn herrschte, aber ein bißchen rebellisch hätte es doch zugehen dürfen. Denn von den drei Millionen Ruhrgebietsbewohnern ist jetzt fast eine Million von Hartz IV betroffen., darunter auch wieder viele mit Migrationshintergrund – sie machen fast ein Viertel der Menschen im Ruhrgebiet aus.

Das Image ändern? Warum eigentlich? »Leder vor dem Arsch fallara«, dabei bleibt es. In der ehemaligen Zeche Zollern in Dortmund-Böwinghausen wurde passend zu »Ruhr 2010« eine Ausstellung gezeigt: »Helden im Zeichen von Schlägel und Eisen«. Es ging um die Bergbaukatastrophen und den Umgang mit ihnen. Für die Herren der Zechen waren ihre Arbeiter »in treuer Pflichterfüllung gefallen«, wie man es auch über die im Krieg Getöteten sagte. Die Arbeiterbewegung nahm die Unglücke zum Anlaß, Ausbeutung und Unsicherheit der Kumpel anzuprangern. Entsprechend griffen die kommunistischen und sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten an. Was wird man später über die Verunglückten von Duisburg sagen? Werden sie tragisch einem bösen Schicksal erlegene sein? Oder wird man auch die Gier anprangern, die das alles mit auslöste? Heldenepos oder Kapitalverbrechen? Wie gehabt, aber mit neuem Image? Warum lassen sich die Menschen in die mörderischen Events treiben wie einst in die Knochenmühlen der Rüstungsschmieden und Blutkohlezechen?

Wir brauchen wieder Rebellentum. Wir brauchen Mutige, nicht die Mutigen der Bungees und Ravefahrer, sondern die des Protests. Wir brauchen Mutige wie Jürgen Lodemann und Albert Lortzing. Der Ruhrschriftsteller Jürgen Lodemann hielt bei Beginn von »Ruhr 2010« anläßlich der Vorstellung des Buches »Meine Heimat – Lieblingsorte in Nordrhein-Westfalen« (an dem auch ich mitarbeiten durfte) einen Vortrag, in dem er abwich vom Üblichen und Erwarteten. Er forderte, endlich die Oper »Regina« von Albert Lortzing (1801–1851) aus dem Revolutionsjahr 1848 im Essener Aalto-Palast uraufzuführen. Diese Freiheitsoper aus den Anfängen der deutschen Industrieentwicklung und Demokratiebestrebung ist beste Arbeiterliteratur. Lortzing – man hat es ihm nicht gedankt, er starb im Elend – läßt seine Industriearbeiter singen: »Es handelt sich um höheren Lohn, es handelt sich um noch weit mehr, beschlossen ist, zu Ende sei die Knechtschaft und die Tyrannei! Wir werden Recht uns jetzt beschaffen, wenn nicht mit Worten, dann mit Waffen.« Heute würde ich vorschlagen: mit Witz und Verweigerung.