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Titel1710

Im Aufschwung  (Werner René Schwab)

Sie fangen schon wieder an. Zwar sind die großen Tarifrunden für dieses Jahr beendet, aber Ausgangsstellungen für die nächsten Runden werden bereits bezogen. Und wieder ist es – wer sonst? – Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, der die ersten Schüsse abfeuert. Er verlangt von den Gewerkschaften »Zurückhaltung«: Drei Prozent mehr Lohn wären »schon sehr viel«, da man doch »den derzeitigen Aufschwung nicht gefährden« dürfe. Ob es mit der Wirtschaft aufwärts oder abwärts geht, die Konjunkturlage ist aus der Sicht der Unternehmer immer gerade die falsche für eine Erhöhung des Reallohns.

Die Mäßigung der Arbeitnehmer, konstatiert Hundt in jovialem Ton, habe sich in den letzten Jahren positiv ausgewirkt – positiv für wen? Allemal für die, die sich respektgebietend Arbeitgeber nennen und für deren Interessen er spricht. Angesichts der fünf Millionen Arbeitslosen wirken seine Sprüche auf mich nur zynisch. »Für Party-Stimmung ist die Zeit aber noch nicht reif«, befindet er, als hätte er sich seit langem jede Geselligkeit versagt.

In Hundts Gefolge setzen andere Kapitalvertreter immer noch eins drauf. Martin Kannegiesser, der Sprecher der Metall-Arbeitgeber, klingt da schon fast moderat: »Hohe Forderungen einiger Gewerkschaften sind das falsche Signal. Wir sind noch lange nicht über den Berg.«

Zum Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), die Rentengarantie abzuschaffen, schweigen die neoliberalen Experten vielsagend, während der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich sogar vorschlägt, die Renten nicht nur bei schlechter Konjunktur, sondern auch in Zeiten der Stagnation zu senken .

In diesen Vorgefechten bleiben die Gewerkschaften auffallend schweigsam und passiv. Die meisten ihrer Führer scheinen inzwischen der von neoliberalen Wirtschaftlern und Politikern verbreiteten These verfallen zu sein, zu hohe Löhne würden den ach so zaghaften Aufschwung bremsen. Der den Gewerkschaften nahestehende »Wirtschaftsweise« Peter Bofinger äußert die Befürchtung, »daß wir in Deutschland nicht so schnell von der Lohnmoderation wegkommen«, und fordert auch selber keine wirkliche Änderung der Tarifpolitik – obwohl die Realeinkommen der Beschäftigten in den letzten sechs Jahren immerzu gesunken, die Gewinne der Unternehmer hingegen ins Unermeßliche gestiegen sind. (Anläßlich des Todes eines der Aldi-Brüder erschienen kürzlich immerhin einmal ein paar Zahlen, die eine Vorstellung von den Dimensionen des Reichtums gaben.)

Wie eh und je behaupten die »Arbeitgeber«-Funktionäre, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen würden die Arbeitslosigkeit vergrößern. Es gibt aber Fachleute, die genau das Gegenteil vorrechnen: Durch Verkürzung der Arbeitszeit um einige Stunden bei vollem Lohnausgleich lasse sich die Arbeitslosigkeit überwinden. Doch die Konzernmedien zeigen sich an solchen Berechnungen desinteressiert, was mich nicht wundert.

Obwohl die Medien fest in der Hand des Kapitals sind und Argumente gegen die Hundt-Propaganda kaum durchdringen können, ist die Ausgangsposition der Gewerkschaften so gut wie seit langem nicht. Viele Menschen sind streikbereit, auch solche, die bisher nicht gewerkschaftlich organisiert waren. Aber von Vorbereitungen auf eine harte Tarifauseinandersetzung ist beim DGB und den meisten Einzelgewerkschaften nichts zu spüren. Finden überhaupt Versammlungen statt? Wer fordert sie? Wer beruft sie ein? Wer bereitet sie vor? Fragen, die jedes Mitglied stellen sollte.