Ich hatte Frank Hardy längst aufgegeben. Fünfundvierzig Warteminuten vorm Melbourner Bahnhof Flinders Street hatten mich so erzürnt, daß ich beschloß zu verschwinden. »Schluß mit unserer Freundschaft – und mein Auto kriegt er auch nicht wieder.« Da hörte ich eine Hupe. Mich umblickend sah ich den kleinen Ford ausrollen, blau leuchtend in der Sonne, sah ihn anhalten und das Fenster herunterkurbeln. »He – where have you been all my life?«, rief Hardy. Wo ich sein Leben lang gewesen sei. Ich würdigte ihn keiner Antwort. Er schwenkte in eine Parklücke ein. Ich ging ihm nach. »Steig aus!« forderte ich. »A mate can do no wrong«, hörte ich ihn sagen. Er öffnete die Tür zum Beifahrersitz. »Steig ein und begreif’ endlich: Ein Freund kann keine Fehler machen.« – »Du ja«, sagte ich und zählte sie auf: unzuverlässig, unpünktlich, unerträglich. – »Fahren wir nun nach Sydney oder nicht?«, wollte er wissen. Spürend, daß ich den Bogen überspannte, wenn ich die Reise tatsächlich abblies, lenkte ich ein. »Fast eine Stunde Verspätung, wer erträgt das?« – »Werd‘ mich bessern«, versprach er, »beim Leben meiner alten Mutter.« Ich mußte grinsen: Wieder so ein Ire, der auf seine Mutter schwört. »A mate can do no wrong.«
Als wir die Stadtgrenze passierten, hatte sich mein Zorn gelegt. Nach Hardys Erklärung konnte ich ihm die Verspätung nicht länger übel nehmen. Zu viel Alkohol die Nacht zuvor, zu wenig Schlaf, dazu dieses Unikum mit Namen Barry Marx, der, wie er fand, ein Bruder der Marx Brothers hätte sein können: Riesennase, Plattfüße und voller Anekdoten, die Hardy sich hatte merken und zu später Stunde noch aufschreiben müssen: »Yarns to remember.« Ich dachte an seine »Billy Broker«-Stories, die regelmäßig im Rundfunk zu hören waren, volksnahe talkstories voll bodenständigem Witz. Wo besser als in Kneipen waren die zu erleben! »Hieß der wirklich Marx?« fragte ich. Hardy sah mich aus den Augenwinkeln an. »Seit ich mir den vorgeknöpft habe, auf alle Fälle.«
Die Landstraße vor uns zog sich durch eine trockene Gegend, der wenig abzugewinnen war: braune Hügel, gelbes Gras, hin und wieder ein paar Schafe, auch Känguruhs – und Schatten nur unter den vereinzelten Eukalyptusbäumen. Die Ödnis hatte uns wortkarg gemacht.
Warum hielt Hardy plötzlich in einer Wolke von Staub und stieg aus? Im Rückspiegel sah ich ihn auf einen alten Mann zugehen, einen cocky, wie man die kleinen Farmer hier nannte. Ich konnte erst hören, was Hardy zu ihm sagte, als auch ich ausgestiegen und auf die beiden zugegangen war. »Blow me down, Jack, daß ich dich hier treffe!« – »Heiß nicht Jack, heiße Bill«, verbesserte der Alte. – »Irren ist menschlich«, sagte Hardy, »und was macht die Frau?« – »Gestorben, schon lange.« – Hardy zeigte sich betroffen. »Traurig, traurig«, sagte er. Der Alte schwieg. »Und die Söhne?« – »Hab nur einen, den Tom«, sagte der Alte. – »Richtig«, sagte Hardy, »der Tom.« Und dann erkundigte er sich nach den Töchtern, einfach ins Blaue hinein. Wie sich zeigte, hatte der Alte davon vier. Hardy tat erstaunt. »Weiß nur von drei«, sagte er. – »Mary ist früh aus dem Haus«, erklärte der Alte, »hat nach Albury geheiratet«. – »Hab’s vergessen – natürlich, die Mary«, sagte Hardy. Er nickte wissend, als der Alte die Namen der anderen aufzählte: Kathy, Iris und Nancy. »Kathy, Iris und Nancy«, bestätigte Hardy. Und dann, wie im Pokerspiel, riskierte er einen Bluff: »Alles wieder in Ordnung seit dem Feuer?«
Der Alte stutzte. »Feuer«, sagte er, »das weißt du noch nach all den Jahren?« – »Als wär‘s gestern gewesen«, sagte Hardy. – »Donnerwetter«, erwiderte der Alte. Er kratzte sich am Kopf und musterte Hardy. »Sag endlich, wie’s kommt, daß du das alles noch weißt.« – Hardy zögerte. »Erklär ich dir ein andermal«, sagte er schnell. »Muß weiter, Bill – mein Kumpel drängt.« Keinen Ton hatte ich bislang gesagt. »Wir sehen uns«, versprach Hardy dem Alten, eilte zum Auto, schwang sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Kaum saß ich neben ihm, fuhr er ab. Im Rückspiegel sahen wir den Mann auf der Landstraße. Kopfschüttelnd, seine Lippen bewegten sich, und es war, als hörten wir ihn murmeln: »Now who the hell was that?« Wer, zum Teufel, war das ...
Daß Hardy bis Sydney das gleiche Spiel zweimal wiederholte, hatte nicht allein mit der Gegend zu tun, die uns anödete, sondern auch mit seiner Gewißheit, daß aus den Begegnungen Stoff für neue »Billy Broker«-Stories zu holen sein würde.