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Titel1711

Fachkräftemangel?  (Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarrat)

Um des angeblichen Fachkräftemangels Herr zu werden, hat die Bundesregierung die Beschäftigung von Fachkräften aus Staaten außerhalb Deutschlands und der EU erleichtert. Zur Begründung wird die angeblich akute Not vieler Unternehmen angeführt, die angeblich dringend Fachkräfte einstellen wollen und sie angeblich auf dem nationalen Arbeitsmarkt nicht finden.

Tatsächlich mag in manchen Berufsgruppen, beispielsweise Vulkaniseure, Elektroinstallateure und Ärzte, vorübergehend ein Fachkräftemangel bestehen, der zuallererst als Indiz für vernachlässigte Aus- und Weiterbildung aufgefaßt werden muß. Solche Einzelerscheinungen werden jedoch seit längerem propagandistisch dazu benutzt, der Öffentlichkeit zu suggerieren, in Deutschland drohe schon bald ein flächendeckender Fachkräftemangel. Rainer Brüderle wurde, als er Wirtschaftsminister war, nicht müde, den Fachkräftemangel zum »Schlüsselproblem« für Deutschlands Arbeitsmarkt zu erklären. Er sprach des öfteren sogar von Vollbeschäftigung, die nicht mehr weit entfernt sei. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt forderte unentwegt wirksame Maßnahmen gegen den angeblichen Fachkräftemangel. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen setzte sich an die Spitze der Protagonisten für die Beschäftigung ausländischer Fachkräfte. Sie sieht in der Abschaffung der Vorrangsprüfung (Deutsche und EU-Bürger hätten bei der Stellenbesetzung Vorrang vor allen anderen Bewerbern) für Ingenieure und Ärzte durch das Bundeskabinett nur den ersten Schritt. Durch den Kabinettsbeschluß sollen deutsche Unternehmer ausländische Fachkräfte etwa aus Indien an der Bundesagentur für Arbeit vorbei direkt anwerben dürfen.

Gibt es aber hierzulande wirklich einen Mangel an Fachkräften? Die Zahlen sprechen zunächst einmal für sich: Gesamtgesellschaftlich stehen jeder offenen Stelle acht registrierte Arbeitslose gegenüber. Bezogen auf Fachkräfte kam eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 2010 zu dem Ergebnis, daß »bei fast allen Fachkräften die Zahl der Arbeitslosen höher als die der offenen Stellen« ist. Gleichzeitig seien, dieser Studie zufolge, mehr Fachkräfte arbeitslos als zwei Jahre zuvor. In den Ingenieursberufen sei in den nächsten Jahren sogar mit einer Fachkräfteschwemme zu rechnen.

Auch ökonomische Gesetze strafen die These vom Fachkräftemangel Lügen. Von steigenden Löhnen auf dem Arbeitsmarkt, die als Folge der Fachkräfteknappheit unvermeidlich wären, ist jedenfalls weit und breit keine Spur.

Die Mär vom Fachkräftemangel dient offensichtlich dazu, die Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen. Nach wie vor sind nach offiziellen Angaben rund drei Millionen Menschen arbeitslos. Hinzu kommen 1,7 Millionen nicht registrierte Arbeitslose und zwei Millionen unfreiwillige Teilzeitbeschäftigte, die umgerechnet eine Million Vollzeitjobs ausfüllen. Auch die Zahl der atypisch Beschäftigten wie Leiharbeiter, Minijobber und befristet Beschäftigten ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Ferner ist der Niedriglohnsektor seit 1995 um zwei Millionen auf 6,5 Millionen (22 Prozent aller Beschäftigten) gewachsen. Die meisten von ihnen haben eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen.

Von Fachkräftemangel kann also überhaupt keine Rede sein. Richtig ist dagegen, daß ein Ausbildungs- und Arbeitsplatzplatzmangel vorherrscht. Seit beinahe zwei Jahrzehnten hinkt die Zahl der Ausbildungsplatzangebote der Unternehmer weit hinter dem Bedarf her. Von den 20- bis 29-Jährigen ist inzwischen jeder sechste ohne Berufsausbildung. Arbeitgeber hätten also viele Möglichkeiten, den Fachkräftemangel zu bewältigen, anstatt landauf landab das Lied vom Fachkräftemangel zu singen. Dem Präsidenten Hundt und seiner neoliberalen Gefolgschaft scheint jedoch mehr daran zu liegen, der Mär vom Fachkräftemangel propagandistisch Nahrung zu verschaffen, um die verschärfte Konkurrenz zwischen ausländischen und inländischen Fachkräften zu rechtfertigen und das faktische Überangebot an Fachkräften, dazu noch durch die Beschäftigung von billigen Fachkräften aus Indien und anderen außereuropäischen Staaten, auch in Zukunft zu sichern. Schließlich ist der deutschen Wirtschaft mit ihrem seit langem betriebenen Lohndumping sukzessive eine Umverteilung von der Lohn- zur Kapitalseite im Umfang von mehreren Hundert Milliarden Euro gelungen, was sich in der drastischen Senkung der Brutto-Lohnquote von 75,2 Prozent (1980) auf 66,3 Prozent (2010) widerspiegelt. Die Gewinnquote ist entsprechend von knapp 25 auf annähernd 34 Prozent gestiegen.

Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat sind die Verfasser des Manifests »Überwindung der Massenarbeitslosigkeit«, das als Ossietzky-Sonderdruck mit einer Einleitung von Eckart Spoo erschienen ist.