Die Berliner Mauer erfüllt noch immer ihre Funktion: Sie trennt, sie sichert, sie schützt. Sie trennt die Anständigen von den Verdächtigen, die sauberen Demokraten von den »Verbohrten« oder »Unmündigen«. Sie sichert ein Feindbild, auf dem sich eine grotesk einseitige Geschichtsauffassung aufbauen läßt: An allen Monstrositäten des Kalten Krieges und der deutschen Teilung waren allein die Kommunisten schuld. Sie schützt vor der heilsamen, aber unbequemen Einsicht, daß der Westen ganz entscheidend beigetragen hat zu einer Situation, in der die Mauer unvermeidlich wurde.
Die wohlfeile Empörung über die Mauer schützt das blendende Schwarz-Weiß der Ideologie vor dem nüchternen Grau der Erkenntnis. Und wer nicht vorbehaltlos mit einstimmt in den Chor der Empörten, sieht sich gebrandmarkt als Verharmloser der »institutionalisierten Menschenrechtsverletzung«, des »Unrechtsstaates« der »Sklavenhalter«. Die Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag und die Hysterie um kleinmütig verunglückte Äußerungen der Linken-Vorsitzenden Gesine Lötzsch haben das wieder drastisch vor Augen geführt. Man verharmlost aber nicht die Mauer, wenn man daran erinnert, daß es in den Krisenmonaten vor Baubeginn um Krieg oder Frieden ging. Man verharmlost nicht die Mauer, wenn man daran erinnert, daß die Spaltung Berlins am 13. August 1961 nicht begonnen hat, sondern nur sichtbarer und spürbarer wurde. Begonnen hatte sie 1948 mit der handstreichartigen Einführung der Währungsreform in Westberlin, mit der die West-Alliierten das Viermächte-Abkommen eklatant gebrochen und faktisch außer Kraft gesetzt hatten. Dieses Schlüsselereignis scheint aus dem offiziellen Geschichtsbild völlig getilgt zu sein.
Franz Josef Strauß, damals Bundesverteidigungsminister und gewiß keiner Sympathien mit dem Kommunismus verdächtig, hat klarer gesehen. Erleichtert notierte er in seinen »Erinnerungen«, am 13. August 1961 seien die Pläne für einen Nuklearschlag gegen die DDR »zum Glück Makulatur geworden«. Immerhin war Strauß von hohen US-Militärs nach geeigneten Zielen für einen Atombombenabwurf auf die DDR gefragt worden, und da er wußte, daß die sowjetischen Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen noch nicht ganz ausgereift waren und die Amerikaner daher annahmen, sie könnten sich einen Erstschlag leisten, hatte er vorsichtshalber einen Truppenübungsplatz benannt.
In den Verhandlungen mit Chruschtschow hatte US-Präsident Kennedy, jung im Amt und unerfahren, hart gepokert, und erst nachdem er sich von Experten hatte ausrechnen lassen, daß ein Atomkrieg 70 Millionen Amerikaner das Leben kosten würde, war er gesprächsbereiter geworden. Es ging um den ungeklärten Status Westberlins und eine Friedensvertragslösung für Deutschland. Der Mauerbau war schließlich Teil einer Minimallösung, die den Status Westberlins und die Zufahrtswege nach Berlin dauerhaft sicherte. Die von Ulbricht gewünschte Alternative eines Vertrags mit der DDR war für Bonn nicht akzeptabel, weil sie einer Anerkennung ostdeutscher Eigenstaatlichkeit nahegekommen wäre.
Zwei Wochen vor dem Mauerbau hatte J.W. Fulbright, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im US-Senat, erklärt: »Ich verstehe nicht, warum die DDR-Behörden ihre Grenze nicht schließen. Denn ich meine, sie haben alles Recht, sie zu schließen.« Man muß sich klarmachen, daß es sich um die Grenze zwischen zwei ideologisch und waffentechnisch hochgerüsteten Militärblöcken handelte, die einander mit dem atomaren »Overkill« bedrohten. Rückblickend kann man sich wundern, wie lange diese Grenze durchlässig geblieben war. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch der DDR aber durch Fortdauer des Flüchtlingsstromes und damit des Verlustes hochqualifizierter Fachkräfte hätte vitale Sicherheitsinteressen der Sowjetunion bedroht und katastrophale Folgen gehabt.
Es gibt im Rückblick auf die Mauer und auf alles, wofür sie symbolisch steht, viel Grund zur Trauer, aber keinen Grund zu Selbstgerechtigkeit und Pauschalverdammung. Die Opfer waren nicht nur Opfer des SED-Regimes, sondern einer von wechselseitiger Paranoia geprägten Gesamtsituation, die maßgeblich mitbedingt war durch westliche Entscheidungen und Strategien. Die Einbindung Westdeutschlands in ein antibolschewistisches Militärbündnis war der Bonner politischen Klasse und ihren Schutzmächten weit wichtiger als das Schicksal Ostdeutschlands. Die Westintegration hat der Bundesrepublik enorme Vorteile gebracht; den Preis dafür hat der Osten bezahlt. Noch die antidemokratische Entartung des sozialistischen Experimentes wurde gefördert durch das permanente und keineswegs grundlose Gefühl der Bedrohung aus dem Westen.