Der Mann war ein armer Farmer, ein Schafscherer, der auch Milchkühe züchtete. Einige bezeichneten ihn als Busch-Sozialisten, als Reporter war er ein Autodidakt. Er lernte Sprachen, reiste in die Welt hinaus. Und dann war er mitten drin, im Auge des Sturms, im Weltgeschehen. Wilfred Burchett würde im September hundert Jahre alt. Er war ein Reporter im Kalten Krieg, einer der besten.
Weil er von der »anderen Seite« berichtete, wurden seine Recherchen bestritten und als tendenziös abgetan. Die australische Regierung entzog dem »Kommunistenfreund« den Paß, so daß Burchett und seine Kinder 17 Jahre nicht nach Australien zurückkehren konnten. So wohnte er dort, wo er recherchierte: in Moskau, Peking und Hanoi, zuletzt in Paris und in Sofia, der Heimatstadt seiner zweiten Frau Vesselina Ossikovska, einer bulgarischen Journalistin und Kunsthistorikerin. Drei seiner vier Kinder wurden in Hanoi, Peking und Moskau geboren.
Wilfred Burchett schrieb 30 Bücher und Hunderte Reportagen, aber in Deutschland kennt ihn kaum jemand.
Es war auf einem Waldweg in der Nähe von Phnom Penh. Aus den Stelzenhäusern kamen halbverhungerte Menschen und boten uns frisch gefangenen Fisch an. Wie wir anderen beobachtete er ein einheimisches Tauschgeschäft – ein älterer beleibter Herr mit schütteren weißen Haaren im Monsunwind. Wir Journalisten waren in Phnom Penh, um an dem damaligen Tribunal gegen Pol Pot und Ieng Sary teilzunehmen. In Kambodscha waren nach dem Genozid zwei Millionen Tote gezählt worden. Es war August 1979.
Das war meine einzige kurze Begegnung mit dem legendären Indochina-Reporter aus Australien, dessen Berichte gelegentlich auch in meiner damaligen Zeitung, der Deutschen Volkszeitung, veröffentlicht wurden. Danach habe ich Wilfred nicht mehr gesehen. Es hieß, er habe Herzprobleme. Aber es wird wohl schon der Krebs gewesen sein, dem er vier Jahre später, 1983, im Alter von 72 Jahren erlag.
Sein Reporterleben hatte 1936 begonnen, als er in London Mitarbeiter eines Reisebüros wurde und damit begann, Juden aus Deutschland nach Palästina und in die USA zu schleusen. Anders als andere erkannte er schnell die menschenverachtende und kriegslüsterne Politik des Hitler-Regimes. Er heiratete seine erste Frau Erna Hammer, die als Jüdin aus Deutschland geflüchtet war. In einem Memorandum teilte er der australischen Regierung seine Recherchen mit und warnte vor dem deutschen Faschismus. Die Regierung wischte Burchetts Analysen vom Tisch und folgte der sogenannten Appeasement-Politik des britischen Premiers Neville Chamberlain, die durch Beschwichtigung und Zugeständnisse die Nazis aufhalten sollte. Ein tragischer Irrtum.
Seine ersten Berichte als Reporter schrieb er für den Daily Express über die Repressionen der französischen Kolonialmacht in Neu-Kaledonien und den chinesisch-japanischen Krieg. Weltweit Aufsehen erregte Burchett, als er als erster westlicher Journalist vor Ort das Grauen der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki schilderte. »Es sieht aus, als wäre eine Monsterdampfwalze drübergefahren und hätte ihre Existenz ausgelöscht. Ich schreibe diese Tatsachen als Warnung an die Welt. – In den Krankenhäusern fand ich Leute, die, als die Bombe fiel, keinerlei Verwundungen erlitten, aber jetzt an den unheimlichen Nachwirkungen sterben. Aus kaum ersichtlichem Grund begann ihre Gesundheit zu versagen.«
Daß Burchett überhaupt nach Hiroshima gelangt war, ist eine besondere Geschichte. Er hatte sich aus dem Kreis der Journalisten verabschiedet, die die US-Army auf einem Kriegsschiff vor der japanischen Küste versammelt hatte, um sie mit dosierten Informationen zu versorgen. Er kaufte sich eine Zugfahrkarte nach Hiroshima, reiste in einem Zug voller japanischer Soldaten, die ihre Aggressionen gegen den »Europäer« nur mühsam zügeln konnten, wurde am Ziel sogleich verhaftet und sollte erschossen werden. Ein japanischer Polizeioffizier rettete ihn. In den Trümmern Hiroshimas schrieb Burchett seinen Bericht auf der alten Reiseschreibmaschine, die er meist bei sich trug.
Höhepunkt seines Schaffens waren seine Reportagen »von der anderen Seite« während des Vietnamkrieges. 1965 resümierte er nach einem Besuch in den vordersten Reihen der südvietnamesischen Befreiungsfront, im Westen Vietkong genannt: »Nichts kann die Degenerierung innerhalb der ausgehaltenen Regierung aufhalten. Die endlose Folge von Staatsstreich und Gegenstaatsstreich, von politischen Krisen und zunehmenden Reibereien zwischen den Marionetten ihrer Herren machen den Bankrott amerikanischer Politik in Südvietnam deutlicher denn je. Es gibt für sie nur einen Ausweg und der heißt: ›Yankee go home.‹«
Doch das sollte noch fünf Jahre dauern.
Er geißelte wie wenige Reporter den sogenannten »Sonderkrieg« der USA gegen Befreiungsbewegungen in aller Welt, nicht nur in Vietnam. Ihr Erfinder war der US-General Maxwell Taylor, einst Berater Kennedys. Gesetzt wurde auf begrenze lokale Kriege, in denen keine eigenen Kampftruppen eingesetzt werden sollten, sondern Einheimische als Kanonenfutter, »damit amerikanische Familien nicht um vergossenes Blut weinen müssen«.
Seine grundsätzliche Loyalität gegenüber nationalen Befreiungsbewegungen brachte Wilfred Burchett dazu, dem Vernichtungssystem der Roten Khmer um Pol Pot zunächst die gleiche Legitimität zuzusprechen wie anderen. Wie auch Noam Chomsky oder die damalige KBWlerin Ulla Schmidt feierte Burchett die Machtübernahme der Roten Khmer in Kambodscha als revolutionäre Volksbefreiungsbewegung. Aber er revidierte seine Meinung früher als andere, nachdem er als Reporter Zeuge von Massakern geworden war. Später erfuhr er, daß er selbst auf der Mordliste der Roten Khmer gestanden hat.
Kurz vor seinem Tode sagte er zu dem britischen Film- und Fernsehjournalisten John Pilger: »Wie könnte ich Kommunist sein? Es gibt so viele Parteien, so viele Ansichten. Für welche sollte ich mich da entscheiden?« Burchetts Einsichten und Analysen jedoch interessierten sowohl Kommunisten wie Antikommunisten. So war er mit Tschou-En-Lai und Ho Chi Minh befreundet, aber auch mit Sihanouk, dessen Kampf um die nationale Unabhängigkeit Kambodschas ihm besonders imponierte. Auch Henry Kissinger war an den Analysen des Reporters Burchett sehr interessiert.
Unabhängige Reporter wie Burchett haben heute kaum noch Chancen, ihre Texte zu publizieren. Zum Beispiel gibt es fast keine Möglichkeit mehr, Hintergründe aus Kriegsgebieten zu recherchieren. Reporter sind heute »embedded«. Sie warten in Hotelbars darauf, von Politikern und Militärs zum Briefing gerufen zu werden. Die Chancen, offiziellen Verlautbarungen zu entkommen, sind klein. Wer es dennoch schafft, von »der anderen Seite« zu berichten, findet keine Abnehmer.
Zeit seines Reporterlebens versuchte Wilfred Burchett, Wahrheiten und Tatsachen auf die Spur zu kommen. Niemand, der ihn kannte, auch nicht seine politischen Gegner, konnten ihm außergewöhnlichen Mut absprechen. Da war er ähnlich seinem legendären Kollegen Egon Erwin Kisch, der seinerzeit, angekommen im Lande Wilfred Burchetts, den Australiern vom Frieden berichten wollte, aber nicht durfte und deshalb vom Schiff auf den Kai sprang und sich dabei das Bein brach.