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Titel1712

Wie lange wird die Bundeskanzlerin leben?  (Werner Rügemer)

»Nicht, solange ich am Leben bin« – so warf die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ihren mit dem üblichen Dienstkostüm bekleideten Körper als Garantie für »die Märkte« in den europäischen und Welten-Ring. Vor der FDP-Fraktion im Bundestag beschwor sie, daß es sogenannte Eurobonds, also eine Art gemeinschaftlicher europäischer Haftung für überschuldete EU-Mitgliedsstaaten, nicht geben werde, jedenfalls nicht solange sie lebe.

Die Todesmutige will dagegen »die Märkte« mit dem Fiskalpakt und dem European Stability Mechanism (ESM) »beruhigen«. Die kleinen großen gelben Männchen und Weibchen von der FDP, die sich selbst als eine ähnliche Garantie verstehen, aber nicht so todesmutig sind, wünschten ihrer Kanzlerin neckisch bis begeistert »ein langes Leben«. Sie dachten dabei, so vermuten wir mal, nicht zuletzt an ein noch möglichst langes Leben ihrer eigenen bedrohten Spezies.

»Die Märkte«, das von einem abgetretenen Bundespräsidenten auch als »Monster« bezeichnete (Un)Wesen, das die Handlungen der Garantiegeberin lenkt, übersetzten ihren Spruch schnell mit »only over my dead body«: Nur über meine Leiche. »Die Märkte« gaben damit über ihre Laut-Sprecher zu verstehen, daß not- beziehungsweise renditefalls sie auch damit leben könnten, wenn die jetzt lebende Bundeskanzlerin Todesopfer ihres eigenen Einsatzes würde. Wie ihre Garantiegeberin selbst ließen sie offen, ob nur das politische Leben gemeint sei oder weiteres. Solch existentieller Einsatz des eigenen Körpers und Lebens ist im Finanz- und Politikgeschäft neu. Abgetretenes Regierungspersonal lebt bisher geläufig als Finanzberater weiter, Banker und Finanzberater leben als Regierungschefs weiter und hin und her. Da mußte bisher niemand Körper und Leben einsetzen, nicht einmal rhetorisch.

Aber jetzt scheint es um viel mehr zu gehen, um Leben oder Tod, jedenfalls für bestimmte Leute.

Diese Leute, die tatsächlich und angeblich Mächtigen, die sich angstvoll-frech und feige hinter »den Märkten« verstecken, wollen ewiges Leben, das haben sie der Bundeskanzlerin geflüstert. Der Zeitpunkt sei günstig, mahnte Anshu Jain, neuer Chef der Deutschen Bank, bei seinem Antrittsbesuch im Bundeskanzleramt. Auch Dirk Notheis, bis vor kurzem Deutschlandchef von Morgan Stanley, ließ wiederholt ähnliches im Bundeskanzleramt ausrichten: Die Abgeordneten verstünden nichts, die Menschen draußen im Lande seien verwirrt und beunruhigt, es seien auch schon Demagogen unterwegs, deshalb müsse entschlossen, schnell und ohne öffentliches Aufsehen gehandelt werden.

So bekam der ESM flugs 700 Milliarden an staatlichen Einlagen und Garantien der Euro-Staaten. Und ihm wurde eine nach oben offene Ausgabenskala eingebaut. Denn die hier gemeinte Stabilität hat als wesentliches Merkmal die Instabilität und wird weitere Forderungen »der Märkte« zu erfüllen haben, damit sie nach oben offen stabil instabil bleiben können.

Der ESM – und seine Gouverneure, Direktoren und sonstigen Manager und Beschäftigten, ebenso sein Eigentum, seine Mittelausstattung und seine Vermögenswerte – sind dem Ewigen schon sehr nah: Sie erhalten absolutes Geheimhaltungsrecht und absolute Immunität. Sie sind vor Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jeder sonstigen Form des Zugriffs durch vollziehende, gerichtliche, administrative oder gesetzgeberische Maßnahmen geschützt, wie die von »den Märkten« mit der Formulierung des ESM-Statuts beauftragte US-amerikanische Großkanzlei in Artikel 32, Absatz 3 und 4 kundig formuliert hat.

Ähnlich heißt es in Absatz 5 bis 8, daß Archive, Geschäftsräume, Unterlagen »unverletzlich« sind, also göttlichen und somit auch ewigen Status haben sollen. Das staatlich-private Hybridwesen ESM, nicht zufällig in der geeigneten Finanzoase des Euro-Chefs Jean-Claude Juncker domiziliert, ist laut Absatz 9 auch befreit von jeglicher Zulassungs- oder Lizenzierungspflicht, die nach dem Recht eines ESM-Mitgliedsstaates für Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsunternehmen oder sonstige der Zulassungs- oder Lizenzierungspflicht sowie der Regulierung unterliegende Unternehmen gilt.

Eine größere Freiheit auf unserem Planeten – jedenfalls im zivilen Leben, soweit wir hier noch davon sprechen können – gibt es bisher nicht, außer vielleicht bei den sogenannten Ratingagenturen und anderen Geheim- und Folterdiensten. Deshalb sind auch alle Gewinne und Vermögenswerte und alles Eigentum des ESM von jeglicher Steuer sowie von allen Zöllen, Einfuhrverboten und -beschränkungen befreit. Die Gehälter und »sonstigen Bezüge« der ESM-Bediensteten sind von allen nationalen Steuern befreit und unterliegen nur einer »internen Steuer«, die an das Monster selbst zu zahlen ist (Artikel 36, Absatz 1 bis 5). Die Beschäftigten zahlen also ihre Steuer, soweit sie das überhaupt tun, an ihren Arbeitgeber selbst – eine geheimnisvolle, sogar im nachbürgerlichen Kapitalismus bisher unbekannte Handlung.

Der Fiskalpakt, vorbeigezogen an Parlamenten und demokratischem Rechtsstaat, ist ebenfalls der Ewigkeit nahe: Er ist unkündbar. Bürgerliche Verträge sind bisher kündbar, spätestens »aus wichtigem Grund«. Einen solchen Grund kennt der Fiskalpakt nicht. Wir befinden uns (wieder einmal) im halluzinierten Posthistoire, am Ende jeglicher Veränderung, Entwicklung und Freundlichkeit.

Die mit Hilfe von ESM und Fiskalpakt und mit ihrem Leben & Körper die Unverletzlichkeit und Immunität »der Märkte« garantierende deutsche Bundeskanzlerin agiert zugleich als Vorsitzende einer politischen Partei, die sich als eine christliche bezeichnet, jedoch als Dienerin »der Märkte« seit ihrer Gründung die postmoderne Toterklärung des christlichen Gottes betreibt, unterstützt von der religionsfreudigen Gottlosigkeit der christlichen Großkirchen, die sich ebenfalls der höheren Ewigkeit des vergöttlichten Mammons unterwerfen. Auch Päpste, seien sie deutscher oder aus solcher Perspektive guter fremdländischer Herkunft, beweihräuchern die Etablierung des Märkte-Gottes durch ästhetisch-segnende Verzauberung und durch bunt-zeremoniale Seelen-Wellneß für die opferbringenden Klassen der westlichen und östlichen, der nördlichen und südlichen Hemisphären, urbi et orbi. Den räuberischen »Märkten« werden alle Schulden und Sünden erlassen und vergeben, und den Beraubten werden die Schulden und Sünden der Räuber aufgeladen. Wie lange aber wird das politische, körperliche oder sonstige Leben der gegenwärtig in Europa noch mächtigsten und neuerdings sogar todesmutigen Dienerin »der Märkte« währen? Und wie lange das ebenso kuriose wie ewige Auf- und Ableben der kleinen großen gelben Männchen und Weibchen von der FDP? Überflüssige Frage. »Die Märkte« sind schon über viele Leichen gegangen, nicht nur über die von Abermillionen Opferbringern, sondern auch über die von Regierenden, die es nach dem Ende ihrer Amtszeit allerdings meist gut haben wie die hinausgedrängten Ackermann & Notheis. Also bedeutet der flapsig-verzweifelte körperliche und Lebens-Einsatz der jetzt auf der Vorderbühne regierenden Antichristin doch weiter nichts Wichtiges?

Die neuen Unverletzlichen und Sanktionsimmunen wollen Ewigkeit, weil sie so gierig und zugleich so bedroht sind wie selten zuvor oder sogar wie noch nie. Aber manche bisherigen Opferbringer sind empört, nicht wenige demonstrieren hin und wieder und auch ständig, manche an den Rändern greifen zu Gewalt oder wollen dies demnächst tun, manche hören auf alte und neue Demagogen, viele sagen noch gar nichts und schauen verständnislos-hoffend auf die Bundes-Mutti, wie Ackermann & Notheis ihre todesmutige Garantin ebenso anerkennend wie herablassend nannten.

»Nicht solange ich am Leben bin.« Das Leben bestimmter wertvollster Leute ist immer weniger wert, in vieler Hinsicht. Der Körper- und Lebenseinsatz der obersten Trägerin unscheinbarer deutscher Hosenanzüge – möglicherweise chinesischer Provenienz – ist ein ferner Abglanz der panischen Selbstgewißheit »der Märkte«. Sie wollen leben, und zwar ewig. Nicht nur das wird ihr Tod sein.