Vor 60 Jahren, als Gerichtsreporter der Täglichen Rundschau, da war meine Welt noch heil. Die Wahrheitsfindung lief ruhig ab, professionell. Anklagen mit politischem Hintergrund, gegen Kriegsverbrecher oder Wirtschaftssünder, gab es kaum noch. Manchmal nur fiel es mir schwer, so ernsthaft zu bleiben wie für das Blatt der sowjetischen Besatzungsmacht nötig. Etwa als man dem Haupt der Magdeburger Spirituosen-Firma »Abtshof« Weinpanscherei vorwarf. Der Mann konterte: Die Güte der Importweine vom Balkan, die in Kesselwagen bei ihm anlangten, sei oft so mies, daß er gezwungen sei, sie zu »schönen«. Dem Grundsatz in dubio pro reo (oder in vino veritas) folgend, sprach das Gericht ihn frei.
Selber mußte ich nie etwas schönen. Erst fünf Jahre später schwand mein Glaube an den Rechtsstaat DDR. Nach dem Ungarn-Aufstand vom Herbst 1956 nämlich wurde der SED-Führung die halbe Kulturszene suspekt. Zumal uns Schriftsteller beargwöhnte man, war doch aus solchen Federn der Funke in das Budapester Pulverfaß gespritzt. Zuchthaus-Urteile wie das gegen Erich Loest sollten die Abweichler warnen. Jedem, der nach mehr Freiheit und Transparenz strebte, galt das Mißtrauen der SED und die Strenge der Justiz.
Davor geschützt durch ihr Leben als Kämpfer gegen den Faschismus und auch durch ihren literarischen Rang schienen Kollegen wie Stefan Heym. Der unterstützte nach dem 17. Juni 1953 einfallsreich den »neuen Kurs« des Politbüros in der Berliner Zeitung. Um diese Zeit kamen wir zwei, dank gegenseitiger Wertschätzung unserer Kriegsbücher, einander freundschaftlich näher. Zu dem 14 Jahre Älteren zog mich Respekt vor seinem journalistischen Mut, seinem unermüdlichen Einsatz für mehr Demokratie.
In der Kolumne »Offen gesagt«, die Stefan Heym im Wechsel mit Schwerins Domprediger Karl Kleinschmidt wöchentlich schrieb, forderte er zum Beispiel Verwaltungsgerichte für unser Land, damit jedermann Beschlüsse der Obrigkeit juristisch anfechten konnte – anstatt bloß per »Eingabe« Bitten zu äußern, quasi als deutscher Untertan. Im Frühlingshauch vor dem Ungarn-Debakel wird ihm das zwar gedruckt, doch erfüllt es sich so wenig wie das Versprechen Walter Ulbrichts, in den Großbetrieben Arbeiterräten ein Mitspracherecht zu geben ... All das unterbleibt bis zum Schluß.
Vor 40 Jahren saßen wir zwei mit unseren Frauen als einzige Zuhörer in der Verhandlung gegen den Magdeburger Bauarbeiter I., angeklagt wegen Widerstands gegen staatliche Maßnahmen in Tateinheit mit Körperverletzung. Der Mann hatte sich zwei Zivilfahndern der Volkspolizei widersetzt, die ihm des Nachts den Heimweg so grob verstellten, daß er sich überfallen wähnte und in vermeintlicher Notwehr zuschlug. »Schieß doch«, rief einer, am Boden liegend, seinem Genossen zu, der sich zum Glück mit der Festnahme begnügte.
Im Prozeß verteidigte sich der Arbeiter recht plausibel. Die zwei Polizisten wirkten wieder so plump wie beim Hergang der Tat. Doch das Gericht sah einen Angriff auf die Arbeiter- und Bauernmacht der DDR, und die Staatsanwältin ereiferte sich derart, daß wir Zuschauer nicht ruhig blieben. Worauf der Vorsitzende drohte, er lasse den Saal räumen, ohne zu merken, wie komisch das klang, vor nur vier Fremden in dem kargen Raum ... Immerhin, er beließ es bei der erlittenen U-Haft, und I. kam frei.
So schritt mein Lernprozeß fort. Ein Wort des Staatschefs von Mexiko ließ mich um 1980 die Systemunterschiede verstehen. Es gebe, so sagte der Mann, weltweit drei herausragend wesentliche Werte: Freiheit, Gerechtigkeit und Ordnung. In der Ersten Welt dominiere das Freiheitsideal; die Sozialisten der Zweiten Welt opferten es weitgehend der Gleichheitsidee; während im Elend der Dritten Welt von beidem wenig zu finden sei – da versuche man allenfalls, die Ordnung zu wahren.
Ein Dreiklang, abweichend zwar vom Weckruf der großen französischen Revolution (liberté, egalité, fraternité), doch auch so griffig, daß ich ihn gern übernahm und in einem Zeitungstext zitierte, den mein Blatt prompt zurückwies. Der Redakteur war furchtsam, ihm schwante Ärger – was mir das Diktum des Mexikaners nur bestätigte. Ja, dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft war die DDR ziemlich nahegekommen, das Ideal der Gleichheit schien in puncto Einkommen fast erreicht. Es herrschte Verteilungsgerechtigkeit, bloß eben zu Lasten des Ansporns und auf Kosten der Freiheit, speziell einer freien Presse.
Vor 22 Jahren endlich angelangt im einig Vaterland, dem perfekten Rechtsstaat, erschloß sich mir bald ein Schnörkel in der Finanzordnung. Steuerehrlichkeit pur, dieses Gebot galt nur für Lohnempfänger, denen der Arbeitgeber das amtlich Geforderte am Zahltag unweigerlich abzog. Mir jedoch, dem Kleinbesitzer von Spargeld, bot die Dresdner Bank eine steuerfreundliche Lösung. Von dem Westgeld, das mir nach dem Währungsschnitt verblieben war, gingen dank dieser hilfreichen Nuance 50.000 DM still über den Tisch im Hinterzimmer – »over the counter« ist der Fachausdruck: fürs Finanzamt spurlos, während ich die Zinsen alljährlich ungekürzt einstrich, mittels der Coupons, die man schlicht abschnitt von den so erworbenen »Tafelpapieren«.
Als der Staat um 1994 auch auf solchen Erlös zugriff, wies mir die Bank großherzig den Weg ins Großherzogtum Luxemburg. Ihr Haus dort zahlte mich – welcher Kundendienst! – weiterhin aus, und ich blieb ungeschröpft. Auf der Zugfahrt durchs Moseltal kam mir das schöne Wort »trickle down« in den Sinn, geprägt schon vor 200 Jahren zum Trost für den kleinen Mann, dem es ein »Niedertropfen« des Geldes, das Durchsickern bis hinab zu ihm versprach, falls die Wirtschaft brummte, der Wohlstand wuchs und die Reichen immer reicher wurden.
Von wem nur war das Wort, ging es zurück auf Adam Smith oder auf dessen Schüler David Ricardo? Karl Marx hatte von beiden gelernt ... Während ich so grübelte, fiel mir hinter Trier der markante Kopf eines Fernsehstars auf, unterwegs wohl zum selben Ziel? Das Leitgesicht vom Bildschirm – diskreter Couponschneider wie ich, ach, das sprach mich ein bißchen frei.
Trickle down, etwas in dieser Art hat auch Horst Seehofer gemeint, als er im Blick aufs Volk jüngst sagte, es nütze den Schwachen nichts, wenn man die Starken schwäche, etwa durch eine Reichensteuer. Ist das Kapital doch ein scheues Reh, bereits der Ruf nach Mindestlohn jagt es weg, und mit ihm fliehen Arbeitsplätze!
Viele halten es für unfair und sehen die Chancengleichheit leiden, wenn das Jahresgehalt des Top-Managers Martin Winterkorn (18,3 Millionen Euro) den Durchschnittslohn bei VW fünfhundertfach übersteigt? Oder wenn Daimler für Dieter Zetsches Pension vorsorglich 29,6 Millionen Euro zurücklegt? Aber das darf man nicht eng sehen, den beiden muß es kaum peinlich sein, die sind doch einfach Spitze! Sie stemmen ein Pensum, das ans Übermenschliche grenzt. Soll ein US-Konzern sie denn abwerben? Und schließlich, wie müßten sich da erst die 31 aktuellen Milliardärsfamilien bei uns genieren! Darunter Frau von Klatten aus dem einst NS-nahen Hause Quandt. Sie hätte es glatt geschluckt, um sieben Millionen erpreßt zu werden, da sie ja sieben Milliarden besitzt, die ihr nach Steuern locker 200 Millionen Rendite bringen, noch dazu leistungslos – das Vierzigtausendfache des Regelsatzes für »Hartz IV«-Empfänger.
Gewiß, das klingt unanständig, es könnte manch einen grämen. Von Scham gequält, werden Superreiche obendrein manchmal Opfer von Raub und Entführung; selbst Leibwächter und all ihre Anwälte sind da kein sicherer Schutz! Doch halt, erinnern wir uns: Schon anno 1960 hat der berühmte Soziologe C. Wright Mills davor gewarnt, Milliardäre zu bemitleiden. Er schrieb: »Die Vorstellung, daß sie ein Leben voller Trostlosigkeit führen, dient jenen, die nicht reich sind, eher als psychologische Plattform, um sich mit den Tatsachen abzufinden. Reichtum in den USA ist auf eine sehr direkte Art und Weise höchst erfreulich, er führt ganz unmittelbar zu vielen anderen Genüssen und Vergnügungen. Wer wahrhaft reich ist, der hat die Mittel, um im großen Stil seinen kleinen Launen, Phantasien und Schwächen zu frönen.«
Und er fragt in seinem Werk »The Power Elite«: »Wenn jene, die das Spiel gewonnen haben, auf dem unsere ganze Gesellschaft zu beruhen scheint, nicht glücklich sind – wie können es dann die sein, die das schlechte Los gezogen haben?« Denn letztlich, so Mills nicht ohne Sarkasmus, sei unter all den möglichen Werten der heutigen Gesellschaft in Amerika doch nur einer allein, der »wirklich souverän, universal und gesund, wahrhaftig rundum akzeptabel ist ... Dieser Wert heißt: Geld.«
Aber steht nicht mit dem Glauben an eine halbwegs gerechte Wirtschaftsordnung der soziale Zusammenhalt auf dem Spiel? Wer traut noch denen da oben? Zumal die Steuerlast der Großverdiener deutlich sinkt, während ihr Einkommen munter steigt und das der Arbeitnehmer real schwindet – um drei Prozent in den letzten elf Jahren laut Spiegel (17/12). »Nötig wäre nichts weniger als ein Systemwechsel«, tönt das Hamburger Magazin, und zwar »so gewaltig, daß die ›Hartz‹-Reformen dagegen wie Schönheitsoperationen erscheinen würden.«
Gut gebrüllt, Löwe! Erkenntnis ohne Konsequenz. Schier unaufhaltsam wächst der Anteil prekärer Arbeit im Niedriglohn-Sektor. Und bei soviel Ersparnis durch Kostensenkung wirkt es nur logisch, wenn die Boni der Chefs weiterhin steigen. Was den schleichenden Verdacht nährt, dieser Staat könne auf andere Art wohl auch ein Unrechtsstaat sein. Zumal das Salär der Top-Manager dermaßen steigt, daß es schon in zehn oder zwanzig Jahren die Profit-Untergrenze der Milliardäre streifen könnte.
Dann könnte durch Automatisierung ein Riesenwerk wie Volkswagen seine Produkte im Sekundentakt ausstoßen, ohne noch groß Leute zu brauchen – außer einer Handvoll Designer plus Ingenieure und eben der paar Spitzenkräfte: geniale Macher, faustische Männer der Tat, dazu verdammt, ihr flottes Blech massenhaft zu vertreiben. Es also per Werbung und Hauskredit pausenlos auch all den Freigesetzten aufzudrängen. Jenen Arbeitslosen, deren dank der Piratenpartei tröpfelndes bedingungsloses Grundeinkommen kaum noch ein Zehntausendstel der (dann echt hart verdienten) Manager-Gage beträgt.
Öfter frage ich mich: Kann das funktionieren? Wäre unsere Trickle-down-Welt dann noch heil? Oder wie ist sie zu retten? Was ist sonst die Perspektive?