Am 11. März 1997 tagte das Karlsruher Verfassungsgericht in Leipzig, um über die Verfassungsbeschwerde von acht ehemaligen DDR-Bürgern zu beraten, die das vereinigte Deutschland weder in Schulen oder Hochschulen noch in Verkehrsbetrieben weiterbeschäftigen wollte. Die Veranstaltung sollte in dem repräsentativen Gebäude stattfinden, in dem bis 1945 das Reichsgericht getagt hatte. Kurzfristig wurde sie in den Festsaal des Alten Rathauses verlegt. Sicherlich gab es dafür gewichtige organisatorische Gründe, jedenfalls wurde dadurch der weltbekannte Ort gemieden, an dem 1933 die Nazi-Justiz im Dimitroff-Prozeß versucht hatte, mittels grandioser Rechtsverdrehung die Brandstiftung im Berliner Reichstag den Kommunisten in die Schuhe zu schieben.
Zwei Instanzen hatten die Stasiakten, die meine angebliche IM-Tätigkeit belegen sollten, höchst unterschiedlich bewertet. Das Berliner Arbeitsgericht hatte mit harscher Kritik an der Unzulänglichkeit der von der Gauck-Behörde vorgelegten Akten auf Freispruch und sofortige Wiedereinstellung als Rektor der Humboldt-Universität entschieden. Der Berufungsrichter Preis dagegen war von der Beweiskraft der Akten überzeugt, erklärte die Zeugen für unglaubwürdig, hielt meine angebliche IM-Tätigkeit für erwiesen und bestätigte sie als Entlassungsgrund. Die Logik seiner Schlußfolgerung wird wohl sein Geheimnis bleiben: Das Gericht habe »in dem komplizierten Prozeß der Wahrheitsfindung den Grad an Gewißheit erlangt, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie vollkommen auszuschließen.« Damit war der ergangene Freispruch aufgehoben worden und die fristlose Kündigung als Rektor und Professor rechtskräftig bestätigt. Aber weil mir der alte juristische Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten« ins Gegenteil verkehrt schien, ließ ich mich von meinem Anwalt zu einer Verfassungsbeschwerde ermutigen. In der Urteilsfindung der zweiten Instanz sahen wir einen deutlichen Verstoß gegen das Verfassungsgebot eines fairen Prozesses und besonders gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör sowie gegen das Willkürverbot. Zu den acht ehemaligen DDR-Bürgern, deren Verfassungsbeschwerde am 11. März 1997 verhandelt werden sollte, gehörte darum auch ich.
Die Beschwerdeführenden waren unter dem Vorwurf von Stasi-Kontakten entlassen worden oder weil sie diese auf Fragebögen verschwiegen oder sich in der SED als Parteisekretäre engagiert oder sogar höhere Staatsfunktionen übernommen hatten. In allen acht Fällen hatten Arbeitsgerichte die Entlassung für rechtens erklärt. Alle Beschwerdeführenden sahen sich vor die Frage gestellt: Welche Eignung müssen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland vorweisen, wenn sie im öffentlichen Dienst der DDR beschäftigt gewesen sind? Tatsächlich gibt es aber dafür keine verbindlichen Kriterien, meinte jedenfalls die Vorsitzende Eva-Maria Stange der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Sachsen). Darum erhoffte sie von diesem Verfassungsgericht in Leipzig sowohl klärende als auch verbindliche Argumente.
Das »Sonderkündigungsrecht« war im Einigungsvertrag festgeschrieben worden. Es besagt, daß nach angemessener Einzelfallprüfung Kündigungen aus politischen Gründen zulässig sind, wenn den Entscheidungsgremien die »Zumutbarkeit« für den öffentlichen Dienst nicht gegeben zu sein scheint, weil die Beschuldigten in der DDR Schulleiter, Parteisekretäre oder Pionierleiter waren.
Allein aus Sachsen wurde berichtet, daß dort etwa 5.000 politisch motivierte Kündigungen im Bereich des Kultusministeriums ergangen sind.
Der sächsische Minister für Wissenschaft und Forschung, Hans Joachim Meyer, antwortete auf die Frage, wer denn als politisch vorbelastet gelte: »Wer Mitglied der SED gewesen ist, nach 1980 Abgeordneter in der DDR war, Mitglied im Kulturbund, im FDGB oder in der FDJ, erst recht diejenigen, die als Mitglieder Funktionen übernommen hatten.« Da drängte sich mir die Erinnerung an die überwunden geglaubte Politik der Berufsverbote aus der Bundesrepublik der 1970er Jahre auf.
Zur »Anhörung« am 11. März 1997 hatte das Bundesverfassungsgericht allen Beschwerdeführenden fünf Fragen geschickt, die in Leipzig beantwortet werden sollten, in meinem Fall speziell Frage 3: »Welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe sind bei der Entscheidung über die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung eines Hochschullehrers zu beachten (vgl. Kap. XIX, Sachgebiet A Abschnitt 3, Ziff. 1 Abs. 5 Nr. 2 der Anlage I im Einigungsvertrag)?« In der öffentlichen Verhandlung bezweifelte mein Rechtsanwalt Klaus Dammann (Hamburg), daß das »Sonderkündigungsrecht« des Einigungsvertrages verfassungskonform sei, auch wenn das Verfassungsgericht dies am 21. Februar 1995 ausdrücklich bestätigt habe. Er betonte, daß damit die Freiheit der Berufsausübung gem. Art. 12, 1 GG eingeschränkt werde. Außerdem argumentierte Dammann, bei der Entscheidung über die Unzumutbarkeit müsse auch das politische Verhalten des Beschwerdeführers im vereinten Deutschland berücksichtigt werden; das Landesarbeitsgericht habe das völlig außer Acht gelassen. »Der Beschwerdeführer ist am 03.04.1990 zum Rektor der Humboldt-Universität demokratisch gewählt worden. Er hat mit großem Engagement und Erfolg sein Amt ausgeübt. Auch nach dem Zeitpunkt der Vereinigung am 03.10.1990 hat sich der Beschwerdeführer jederzeit loyal gegenüber dem Grundgesetz und seinem öffentlichen Dienstherrn verhalten. Er hat sich hervorragend fachlich bewährt und keinerlei Zweifel an seiner persönlichen Eignung aufkommen lassen. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß das Landesarbeitsgericht gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze der freien Berufswahl gemäß Art. 12 Abs. 1, 32 Abs. 2 GG sowie den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat. Das Urteil vom 16.12.1992 ist mithin aufzuheben.«
Zur Klärung der politischen Voraussetzungen für eine Anstellung früherer DDR-Bürger im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland hatte das Gericht Gutachter aus der sächsischen Landesregierung eingeladen: den Minister für Justiz, Steffen Heitmann, und den Kultusminister, Matthias Rößler. Beide äußerten die Überzeugung, daß allein die frühere Tätigkeit und die übernommenen Funktionen ausschlaggebend seien. Das betreffe speziell ehemalige Angestellte im DDR-Schulwesen, das laut Rößler eine »spätstalinistische Hochburg« gewesen war, worauf viele Anwesende mit Gelächter reagierten. Heitmann meinte, daß der große Neuanfang in Sachsen auch einen personellen Neuanfang zur Bedingung haben müsse, sonst würde die friedliche Revolution verraten, die »Friedlichkeit« und »Wahrhaftigkeit« gebracht« habe.
Ein weiterer Gutachter und Berater für die Probleme im Umgang mit Angestellten im öffentlichen Dienst der DDR war Hans Bernhard Beus vom Bundesinnenministerium. Er verteidigte die Sonderkündigungsregel und meinte, es wäre eigentlich die sicherste Lösung gewesen, wenn 1990 alle DDR-Angestellten aus dem Schuldienst entlassen worden wären. Stefan Wolle vom neugegründeten Hannah-Arendt-Institut Dresden erläuterte, in der DDR habe jeder auf jeden aufzupassen gehabt, weil die Stasi Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaft gewesen sei. Das habe besonders die Schulen betroffen. Immer wieder taten Prozeßbeobachter – es saßen rund 200 im Saal – durch Lachen und Buhrufe ihrem Unmut über die Gutachter kund, was die Richter deutlich irritierte. Doch die Stimmung war eher bedrückt als ermutigend.
Ein Vierteljahr später, am 10. Juni 1997, gab das Gericht in Karlsruhe immerhin drei Beschwerden statt. Ich gehörte zu den Abgewiesenen.
Heinrich Finks Artikelserie über die Humboldt-Universität in der Wendezeit begann in Ossietzky-Heft 2/11 und wird fortgesetzt.