Wer hochstieg, die Treppe, um zu erkunden, was in dem Glaskasten zu sehen sei, wurde enttäuscht: nichts. Doch etwas. Ein junger Mann näherte sich uns und fragte höflich, ob wir bereit seien, unsere Meinung zum Thema Marktwirtschaft zu sagen. Ein Teil des Eintrittsgeldes würde dann erlassen. Das ist die »Installation« von Tino Sehgal, die von den Zuschauern selbst erst geschaffen werden muß – wenn sie sich darauf einlassen. Ein Auftakt zum diesjährigen Sommer-Festival auf Kampnagel in Hamburg unter dem Titel: »Wachstum«, das alles frißt. Auch Griechenland. Davon mehr im nächsten Heft.
Halle 2 führt in ein transsilvanisches Dorf. Der Festival-Leiter Matthias von Hartz glaubt: »Bei dem ungarischen Theaterstück von Árpád Schilling muß man weder Ahnung von Ungarn noch von internationalem Theater haben.« Dessen jetzige Gruppe »Krétakör« besteht aus fünfzehn Jugendlichen und drei Schauspielern. Filmszenen zeigen ein – auf den ersten Blick – pittoreskes Dorf: Hundegebell, Pferdewagen und Kühe mit Glocken. Auf der Bühne werden Schüler immer im Kreis herumgehetzt, von einem Lehrer kommandiert. Wer einen Fehler macht, muß zur Bestrafung im Entengang um den brüllenden Lehrer herumwatscheln. Ein kleines Motorrad fährt ratternd auf die Bühne. Die neue Lehrerin, die aus Budapest kommt, versucht, einen freien Geist in diese verkrustete Gesellschaft zu bringen und durch mehr Kommunikation untereinander Toleranz zu lehren. Aber die Realität sind Prügeleien. Die junge Pädagogin, die Theater lehrt, stellt Fragen. Wer hat die Ohrfeige bekommen? Wer hätte sie verdient? Ein Junge meint mutig: »der Lehrer«. Frage eines Schülers an das Publikum, was hier auf der Bühne geschehe? Allzu pädagogisch, die Zuschauer gehen nur zögernd darauf ein. Er stellt weitere Fragen von der Bühne herab: »Was ist die Rolle der Jugendlichen draußen in der Welt?« Antwort aus dem Publikum: »Fragen stellen.«
Ein Film spiegelt die Rückständigkeit in der ungarischen Provinz. Zwei alte Männer erzählen umständlich, daß es früher nicht einmal für jedes Haus einen eigenen Brunnen gab, nur bei der Kirche. Heute ist vieles anders. Aber nicht besser. Die Ungarn sterben aus. Szenenwechsel: ein junger Roma gibt Auskunft über sich und sein Leben, vor einem mit Stofftieren übersäten Sofa. Die alten Männer wieder: »Mit denen kann man heutzutage nicht reden.« Der Roma möchte eine Verständigung, es fließe doch das gleiche Blut in allen. Aber, »die Leute hier haben böse Zungen«. Dann wieder die kahle Bühne. Die Jugendlichen, von der Lehrerin ermutigt, sprechen über die prekären Verhältnisse zu Hause. Und über Krankheiten, die die Familien belasten. Sie sitzen alle auf dem Boden – kein Tanz hier wie nebenan in Halle 6, wo Boris Charmatz das Publikum mit Grundübungen vergrault. Lilla, die Lehrerin, versucht, alles in eine andere Richtung zu lenken, fragt nach Äußerlichkeiten. Die Jugendlichen treten einzeln vor, versichern, daß sie das Leben schön finden, denn: Sie besitzen einen Laptop, lesen Zeitung, sehen ihre Lieblingssendung, rauchen. Ein modernes Dorf? Aber in die Kirche gehen sie auch. Weitere Fragen der Pädagogin aus der Stadt an die Mädchen, ob ihnen haarige Männer gefallen. An die Jungen, was sie als erstes wahrnehmen bei den Frauen. Brüste? Sie bekennt, daß sie Frauen liebe und daß sie eine Freundin hatte mit kleinen Brüsten. Ungewöhnlicher Unterricht. Ein Junge – es ist der Sohn der Lehrerin – rebelliert gegen diese Befragerei. Er fühlt sich hier so fremd wie ein »Krüppel« unter den anderen. Will zurück nach Budapest. Sie, die doch meistens lacht, oft unmotiviert, fängt zu weinen an, verläßt die Bühne. Der Lehrer kommt und stöhnt, er könne nicht weg hier. Er habe Frau und Kinder. Die Schüler schimpfen über die Lehrerin. Sie sei weggegangen, ohne zu sagen, wohin. Ein Schüler tröstet sich mit der Bibel. Doch die meisten wünschen, daß Lilla zurückkommt.
Hier ein Wort zu den vielen Worten – in Ungarisch. Eine kaum leserliche weiße Schrift auf beigefarbenem Untergrund, übersetzt ins Deutsche. Für meine Augen eine Zumutung. Ich kann nicht ausschließen, daß ich manches mißverstanden haben könnte. Die Umsetzung zum Stück wirkt unfertig, ist nicht immer gelungen.
Der Dorfpfarrer erscheint und fragt nach dem Sinn von »Gemeinde«. Ja, alles verdanke er Gott, sagt ein Knabe. Und jeder Satz endet mit der Anrede »Herr Pfarrer« – wie seit Jahrhunderten. Aber es gibt Widersinn. Ein Mädchen fragt, was ihr der Glauben denn nütze? Das sei nicht mit dem Verstand zu begreifen, die Antwort. Eine flüstert ins Mikro, daß sie den Pfarrer liebe. Eine andere schreit ihn an: »Sie Geizkragen!« Bei ihr wird zu Hause der Strom abgestellt. Aber, »Sie geben den Leuten nichts«. Auch die Lehrerin – plötzlich doch wieder hier – klagt den Pfarrer an, daß er die Kinder absichtlich dümmer gemacht habe, damit sie beten und die Kirche nicht infrage stellen. Er wolle doch nur den Frieden in sich finden, stammelt er – in sich. Es bricht heraus aus Lilla, alle Wut und Enttäuschung, sie schreit den Würdenträger an. Er läuft weg, seine Schäfchen zwischen sich und der Ruhestörerin.
Ein Mädchen kommt und tritt so wütend gegen das Motorrad der Lehrerin, daß es auseinanderfällt: »Geh zurück zu deinen Freunden.« Eine Filmszene, nun in Budapest. Lilla wird befragt über ihre Motive, in dieses kleine Dorf zu gehen. Ob sie es bereue? Ob sie vielleicht wieder auf der Bühne stehen möchte? Ob sie die Kinder langsam vergessen werde? Sie weiß kaum eine Antwort, zupft ratlos an ihrer Nase herum, eine hilflose Geste. Ihr pädagogischer Versuch – ist er gescheitert? Auf der Bühne laufen die Schüler wieder im Kreis, wie automatisch. Ganz ohne Befehle. Und ohne einen, der kommandiert.
Der Kreis hat sich geschlossen. Vom Ungarn Horthys 1944 zur Wiedergeburt unter Orbán 2010.