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Titel172013

Ein Julitag wie jeder andere  (Wolfgang Helfritsch)

Neulich war ich wieder mal auf Querbundesländerreise. Ein Besuch beim Bruder im Sanatorium im erzgebirgischen Schwarzenberg stand an. Da meide ich – ich habe es Ihnen schon mal erklärt (s. Ossietzky 20/12) – den teuren ICE und fahre mit Regionalbahn-Tagestickets quer durchs Land. Das dauert zwar länger, ist aber wesentlich preiswerter und vermittelt mehr Begegnungen und Eindrücke, und zur Schiene habe ich sowieso ein weicheres Verhältnis als zur Autorennbahn.

In aller Herrgottsfrühe – wann genau ist das eigentlich? Gibt es dafür EU-Normen? – fuhr ich mit der U-Bahnlinie 5 zum Regionalbahnsteig am Alex. Unterwegs blätterte ich in der Tageszeitung: nichts Besonderes, nur Mord- und Totschlag, Verkehrskatastrophen, Überfälle, Brandstiftung, Zuspitzung der Lage in Ägypten, Sprengung von Bankautomaten. »Mann erstach Ehefrau wegen schief gewickelter Kohlrouladen«, »Verschmähte Geliebte bat Ex-Freund auf den Balkon, doch sie hatte keinen«, »Mutter vergaß Säugling im Waschautomaten«, »Nackter Badegast fand unter Polizeikugeln den Wassertod« – das Übliche halt. Gefüllt mit und ergrimmt von derlei Informationen umklammerte meine Greisenhand besorgt meine Tasche mit Lesematerial für die Fahrt und etwas Atzung für den Bruder, spähten meine bebrillten Augen hoffnungsvoll nach den vom Innensenator Henkel angedrohten aufgestockten Sicherheitskräften – aber nichts Kriminelles geschah.

Im Gegenteil: Vom S-Bahnsteig herüber waberte Live-Musik. Da hatten Rock-Musiker, vermutlich auf dem frühen Heimweg von einer gelungenen Party, nochmal ihre Instrumente ausgepackt und unterhielten, kurz vor fünf Uhr (siehe »Herrgottsfrühe«) die Wartegemeinschaft. Der E-Pianist zapfte seinen Strom vom Fahrdienst-Turm (hoffentlich kriegen die verständnisvollen Bahn-Mitarbeiter im nachhinein keinen Ärger), die Band unterstützte den Sound mit teilweise improvisierten Instrumenten, den vermutlich zu ihren Diensten strebenden Arbeitnehmern trat ein lockerer Zug in ihr Antlitz, und ein paar junge Leute versuchten sich ungelenk im Bahnsteigtanz.

Erstmalig bedauerte ich, daß mein Regionalexpreß pünktlich einfuhr, so daß ich nicht verfolgen konnte, ob es auf dem Bahnhof zu Verbrüderungsszenen oder zu polizeilichen Platzverweisen kam. Aber der angebrochene Tag bot mir eine Reihe weiterer – ich sage mal, sozialer Gefälligkeiten. Man könnte auch sagen, die weitere Reise menschelte so dahin.

Der Zugchef stellte sich persönlich vor und hatte nicht nur Anschlüsse für Umsteiger, sondern auch Aufschlüsse für Zusteiger auf der flotten Zunge, und die ganze Weiterfahrt zwischen Dessau und Leipzig verlief pünktlich und entspannt.

Im Expreß zwischen Leipzig und Gera saß ich einer jungen Dame gegenüber, die einen sagenhaften Lebensoptimismus ausstrahlte, obwohl sie blind war. Ihre Fröhlichkeit und Unkompliziertheit steckte das ganze Abteil an, und die Umsitzenden mußten ihre Blindenuhr ausprobieren, auf der man die Tageszeit abtasten konnte. Sie freute sich auf Erlangen, ihre fränkische Heimat, die sie uns so plastisch und liebevoll beschrieb, als würde sie dort als Touristenführerin tätig sein.

In Gera saß ich auf der Bahnsteigbank neben einem jungen Mann, der sich die Wartezeit mit Stricken verkürzte und die erstaunt Vorübergehenden nicht nur in Wolle, sondern auch in Gespräche über den Nutzen derartiger Freizeittätigkeiten verwickelte. »Haben Sie sich schon mal einen Pullover gestrickt? Beim Stricken kommen mir die besten Ideen! Versuchen Sie´s doch auch mal!« Das sagte er so freundlich, daß jede Zweideutigkeit glatt überhört wurde.

In der Erzgebirgsbahn zwischen Zwickau und Schwarzenberg pries mir eine Dame im Oma-Alter stolz die Vorzüge ihrer drei mitreisenden Enkel an, und als sie ihnen Fahrtverpflegung in Gestalt von selbstgebackenen Kuchenstücken verabreichte, war ich mit von der Partie – und nicht nur deswegen, weil ich beim Länder-/Städte-/Flüsse-Raten vorgesagt hatte.

Ich kam pünktlich und fröhlich in Schwarzenberg an, mein Bruder war »gut drauf«, und auch die Rückfahrt habe ich in guter Erinnerung. Besonders beeindruckte mich eine jüngere Dame, mit der ich über ihre engagierte Arbeit in der Altenpflege ins Gespräch kam.

Als ich zu später Stunde wieder in Berlin eintraf, wurden gerade die ersten Tageszeitungen vertrieben: Juwelier bei Überfall getötet, Brandstiftung in einer Schulturnhalle, Selbstmord-Attentate im Irak, Fahrpreiserhöhung, Mietenexplosion, Hure von Freier totgeprügelt, Geheimdienstskandal.
Gottseidank, das Leben hatte mich wieder.