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Titel172013

Bemerkungen

Aufschubpolitik
Der 22. September rückt näher, bei den Repräsentanten von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen jedoch, im Kartell der Koalitionsbereiten, ist von politischer Leidenschaft nichts zu spüren. Die routiniert lässige Gemütslage steht eklatant im Widerspruch zu dem Problemdruck, der auf der deutschen Parteiendemokratie liegt und der sich demnächst verstärken wird. Man darf einer Politikerin wie Angela Merkel oder einem Politiker wie Peer Steinbrück, um nur diese Spitzenkräfte zu nennen, gewiß nicht unterstellen, sie seien schlichtweg realitätsblind. Bespielsweise:
Dem regierenden oder zum Mitregieren drängenden politischen Führungspersonal wird durchaus bewußt sein, daß die Eurokrise keineswegs gelöst ist, daß mittelfristig auch die Bundesrepublik heftige finanzielle und wirtschaftlich-soziale Schäden zu erwarten hat. Die »Erfolgs«-Story Deutschland hat ein Verfallsdatum, und die sozialen Sicherungssysteme sind darauf nicht eingestellt, ihre weitere Privatisierung bringt keine Rettung.

Den PolitikerInnen dürfte auch nicht entgangen sein: Der auf nationale Souveränität sich berufende Parlamentarismus verliert seine Funktionen; Operationen in den globalen Finanz-»Märkten« oder auch internationale Aktivitäten der IT-Herrscher überspielen ihn.

Und das regierende oder regierungsfähige Personal weiß: Der derzeit waltende Parteien- und Parlamentsbetrieb verliert immer mehr seinen Kredit bei den Bürgerinnen und Bürgern, der Appell zur Teilnahme an Wahlen stößt zunehmend auf Gähnen.

Wieso dann keine Erregung bei den Politikprofis? Ich vermute: Sie kalkulieren, so ganz jung sind sie ja zumeist nicht, mit einer Galgenfrist. Sie rechnen damit, daß ihnen, bis das alles zum öffentlichen Großärgernis wird, noch einige Jahre bleiben, um ihrem gut situierten Job nachzugehen. Dann können sie, persönlich abgesichert, in Frührente gehen – oder in die private Wirtschaft. Von üblen Spätfolgen ihrer Politik werden sie sich freisprechen, das nachrückende Personal dafür verantwortlich machen. Exemplarisch: Angela Merkel kann auf die Legende rechnen, sie sei eine tüchtige Kanzlerin gewesen; sie muß nur den richtigen Zeitpunkt wählen, um sich aus der Politik zurückzuziehen
.
Gesellschaftsgeschichtlich wird die »Hinrichtung« stattfinden; sie betrifft dann aber nicht die jetzt tätige politische Elite, ihr bleibt der »Galgen« erspart.

A. K.


Dezimalheur
In der Presse wird zur Zeit viel gerätselt. Obwohl die Kanzlerin keineswegs vollkommen ist und ihr allerhand Mängel nachgesagt werden, wird sie in Umfragen weder von Steinbrück noch von jemand anderem erreicht. Journalisten kommen partout nicht dahinter, wie das zu erklären ist. Vielleicht hilft ein Blick auf Erich Kästner. In seinem Gedicht »Patriotisches Bettgespräch« mokiert er sich über einen Minister und dessen Aussage über den Geburtenschwund. Zitat: »Auf tausend Deutsche kämen wohl pro Jahr – gerade 19 Komma 04 Kinder – 04? und so was hält der Mann für wahr. – Daß das nicht stimmen kann, sieht doch ein Blinder. – Die Kinder hinterm Komma können bloß – von ihm und anderen Ministern stammen – und solcher Dezimalbruch wird mal groß – und tritt zu Ministerien zusammen ...« Großgewordener Dezimalbruch. Eine Erscheinung, die man in Betracht ziehen sollte.
Günter Krone


Ratschläge fürs Rüstungsgeschäft
Beim Export von Waffen steht die Bundesrepublik erfolgreich da, immerhin belegt sie im blutigen Sektor des Weltmarktes den dritten Rang. Aber gerade in dieser Branche bedeutet Rasten ein Rosten bei den Profiten, und so gibt denn Ulrich Friese, Wirtschaftsredakteur der F.A.Z., den Rüstungsunternehmen Empfehlungen, wie sie sich besser aufstellen können. EADS/Airbus sei nicht vorangekommen mit seinen militärischen Angeboten; »Eurohawk« stagniere, obwohl »im Weltmarkt für militärische Drohnen glänzende Zukunftsaussichten« bestünden; der »Eurofighter« leide unter Auftragsmangel. Was tun? Friese rät:
Erstens in dieser Branche endlich mehr europäische Kooperation politisch fördern, nationale Hersteller in länderübergreifenden Firmenverbund hineinlotsen. Zweitens die Öffentlichkeit dahin bringen, daß kritische Vorbehalte gegenüber der Lieferung von Rüstungsprodukten in Krisengebiete sich verflüchtigen. Speziell der Nahe Osten und Afrika seien doch die »leicht zugänglichen Märkte«; deutsche Leoparden zum Beispiel brauchen freie Bahn für ihren Weg in die Golfregion. Drittens unternehmensstrategisch dem Vorbild des US-amerikanischen Konzerns Lockheed Martin folgen (Nr. 1 im globalen Rüstungsmarkt). Der hat seinen Profit kräftig steigern können, obwohl bei den einheimischen Rüstungsausgaben eher ein bißchen gespart wurde. Wie geht das? Durch »größere Effizienz im Tagesgeschäft«, schreibt Friese. Das heißt: Je mehr aktuelle Mord- und Totschlagstimmung irgendwo in der Welt, desto reger das Kundeninteresse, das rasch zufriedengestellt sein will, durch Lieferungen in einem breiten Warenspektrum, vom militärischen Hightech-Produkt bis zur Handwaffe.
Peter Söhren


Steuersünder
Die Leipziger Volkszeitung berichtet: »Deutschland hat die türkische Polizei in den vergangenen Jahren mit mehr als einer halben Million Euro unterstützt und auch Reizgas an die Türkei geliefert.« Würden unverantwortliche Elemente nicht so viele Steuern hinterziehen, könnte Deutschland die türkische Polizei bei der Bekämpfung friedlicher Demonstranten wirkungsvoller unterstützen.
Günter Krone


Ärzte, Lehrer, Müllwerker weg!
Unsere Regierenden empfehlen den vom Pleitegeier bedrohten EU-Staaten als Ausweg aus der Misere, die »Soziallasten« zu verringern und den öffentlichen Dienst um mindestens ein Drittel abzubauen, auch wenn die Arbeitslosigkeit bereits eine zweistellige Prozentzahl erreicht hat und die privaten Unternehmer so viele Beschäftigte wie möglich »freistellen«. Die alte Methode des Kapitalismus eben, dem ein anderer, vernünftiger und humaner Ausweg, nämlich die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, ein Greuel ist, ganz zu schweigen von – Pfui Teufel – Vergesellschaftung der Banken und der Monopole. Wir in der Bundesrepublik sollten es ihnen vormachen. Ein typisches Beispiel erleben wir zur Zeit in Baden-Württemberg. Der Landesrechnungshof hat der grün-rosa Regierung vorgerechnet, sie könne den Etat-Ausgleich im Jahre 2020 nur erreichen, wenn sie bis dahin 30.000 Stellen einspare. Das sind mehr als zehn Prozent der 280.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst: Musiklehrer, Polizisten, Müllwerker, Ärzte. Und das ist nicht alles. Zudem sollen mindestens 17.000 Stellen mit dem Vermerk »kw« (künftig wegfallend) versehen werden. Nur das, so sagte der Präsident der Karlsruher Behörde, Max Muding, könne zu den notwendigen »Effizienzgewinnen« (wirtschaftlich gewinnbringend) führen, ohne daß er andere Modelle auch nur erwähnt. Daß das Heer der Arbeitslosen vergrößert würde und daß der funktionierende öffentliche Dienst seine Funktionsfähigkeit verlieren würde, ist den hohen Bürokraten in Karlsruhe gleichgültig. Sie können sicher sein, daß ihre Institution nicht angetastet wird, solange sie sich nicht etwa plötzlich ihrer Aufgabe bewußt würden, dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen – was auf den nackten Sozialismus hinauslaufen könnte.

Kaum waren die Vorschläge bekannt geworden, kaum hatten Gewerkschaften und Beamtenverbände Kritik geäußert, verabreichte die Landesregierung Beruhigungstropfen! Hier handele es sich um ein Denkmodell, über das noch gesprochen werden müsse. Das Ergebnis kann aber schon vorausgesagt werden. Denn die Landesregierung hat bereits beschlossen, 11.000 Lehrerstellen nicht mehr zu besetzen. Insider berichten, dies sei auch als Vorgabe für den Landesrechnungshof gedacht gewesen. Es handele sich um ein perfides Zusammenspiel. Die Regierung und die sie tragenden Parteien würden etliche besondere Grausamkeiten von der Liste streichen und dann sich selbstbewußt vor dem Wähler an die Brust klopfen. Wetten, daß? Um dies vorauszusagen, bedarf es keiner Spezialkenntnisse, die Erfahrung lehrt es.
Werner René Schwab


Fassungslos

Wenn so viele betrunken sind,
tut es weh, nüchtern zu sein,
fast, als wäre das ein Verrat.

Langsam,
Schluck
für
Schluck,
sind sie
in den
Mainstream
abgerutscht.
Und du
stehst
fassungslos
vor ihrer
fernsehgestützt
beredten
Ahnungslosigkeit.
Renate Schoof


Prof. Dr. Lothar Lang
Sein plötzlicher Tod dürfte viele Menschen betrüben, denn dieser einzigartige Kunstkenner, Kunstfreund hatte die Künste genausogut begriffen wie die Künstler, und er konnte vielen von uns die Künste, die Kunstwerke begreiflich machen. Lang kam ohne geheimnisvolle Redensarten aus, er begrub keine harmlosen Leute, auch keine Kinder unter Komposthaufen von Phrasen.

In der Schule versuchte ein bemühter Kunsterzieher, uns die Kunst anzugewöhnen, indem er sie uns abgewöhnte. Er hängte eine Matisse-Reproduktion an die Wand und predigte: »Sehn Sie mal, wie Matisse diesen Arm gemalt hat! Sehn Sie mal diese Linien hier.« Einfach unbeschreiblich: diese Linie, welche ein Arm war. Zwei Arme hatte ich damals schon selber, einen links und einen rechts. Sehn Sie mal selber.

Gelegentlich spazierten wir durch Sempers Gemäldegalerie und erblickten dort liebliche Madonnen, zechende Bauern, mythologische Gestalten und schöne Frauen. Einer wollte ich mal die Hand geben, aber sie war schon mit einem älteren Zahnarzt verheiratet.

Die vielgerühmte Madonna von San Sisto, genannt die Sixtinische Madonna, hat Raffaelo Santo auf eine Leinwand gemalt 2,65 x 1,96 Meter groß (ohne Rahmen).

Interessiert es Sie vielleicht, welches Gewicht der Rahmen hatte? Was Raffael, als er dieses Werk zu malen begann, gefrühstückt hatte: Buletten mit Kartoffelsalat? Hackepeter mit Eiern? War er Links- oder Rechtshänder? Hatte er vielleicht eine dritte Hand? Wo befand sich dieselbe? All das interessierte Lothar Lang nicht. Und sein Publikum schon gar nicht. Ein Beispiel:
Vor vielen Jahren fand in der Galerie am Nordende des Berliner Lustgartens eine Ausstellung von Werken des russisch-französischen Welt-Malers Marc Chagall statt. Schon eine halbe Stunde vor der offiziellen Eröffnung wurden mehr als ein Dutzend Kunstfreunde unauffällig in die Galerie eingelassen – von Lothar Lang, der die Schau zusammengestellt hatte und seinen quasi heimlichen Besuchern auf Wunsch jede Frage beantwortete. Dafür dankt heute noch ein damals erfreuter Besucher ohne Billett namens
Lothar Kusche


Ein Fest für Auge und Verstand
ist die Ausstellung mit Arbeiten von Rudolf Grüttner »Gebrauchsgrafik. Arbeiten aus fünf Jahrzehnten«, die Ende Juni in der Burg Beeskow eröffnet wurde. Sie ist seinem 80. Geburtstag gewidmet. Das Plakat dafür ist von Grüttner selbst entworfen; es zeigt den Bergfried von Beeskow als Litfaßsäule, geschmückt mit Grüttners ausgezeichneten Kulturplakaten.

In einer Pressemitteilung der Burg wird der außerordentliche Stellenwert der Gebrauchsgrafik als kommunikative Kunst erwähnt. Zu Rudolf Grüttner ist zu lesen: »Seine Grundsätze formuliert er aber auch in seinen eigenen Arbeiten konsequent aus: Diese sind eindringlich, markant, ästhetisch, auf das Wesentliche reduziert und zugleich mit leisen Untertönen versehen.« Der Laudator bezeichnete Grüttner als »... dynamisch und erfolgreich, anpassungsfähig, das nennt man heute flexibel, vorbehaltlos leistungsbereit, entwicklungsfähig und förderungswürdig«. Grüttner erhielt hohe Auszeichnungen, wurde Dozent, Professor und später Rektor der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Über Jahre leitete er den Berliner Bezirksverband Bildender Künstler der DDR und war einer der Vizepräsidenten dieses Verbandes. »Die DDR war zwar nicht wie die Bundesrepublik ein Rechtsstaat, sondern ein Linksstaat, was ihm recht war«, so der Laudator.

Die Konzeption für die Ausstellungsgestaltung stammt vom Aussteller selbst und ist bis ins Letzte durchgeplant; der Raum wird optimal genutzt. Wir begegnen alten Bekannten: Plakaten, vor allem Theaterplakaten, Buchgestaltungen, Zeitschriften, Bildbänden, Briefmarken, Signets. Da darf auch der in der DDR beliebte Literaturkalender nicht fehlen. Die Filmplakate waren oft besser als die Filme selbst, urteilte Ingeborg Ruthe einst in der Berliner Zeitung.

Ein Fest für den Verstand bereitete dem Publikum der Grafiker und Illustrator Hans-Eberhard Ernst, der eine Eröffnungsrede hielt, die oft von Beifall unterbrochen wurde. Sie soll am 17. August auf den Themenseiten der jungen Welt veröffentlicht werden, ein Genuß, unbedingt lesen! Da begeisterten Wortschöpfungen wie »DD-Rdrutsch« oder Feststellungen wie »... Kunst und Kultur konnten sich im ›Reservat DDR‹ günstigere Bedingungen schaffen als auf der marktorientierten ›freien Wildbahn des real existierenden Egoismus‹«. Kurzum, diese Ausstellung ist ein Erlebnis von besonderer Güte; sie ist noch bis zum 29. September 2013 dienstags bis sonntags von 9 bis 19 Uhr zu sehen.

Maria Michel


Berlin – Wladiwostok per Rad
In Ufa bin ich bei Nikolai untergebracht, einem weltgewandten Russen, der bei couchsurfing registriert ist. Olga, die über die russische Wochenzeitung Russkaja Germanija für mich gewissermaßen als Pressemanagerin arbeitet, hatte von Berlin aus ihre russischen Landsleute zur Unterstützung aufgerufen, schon in Kasan konnte ich auf diese Weise Gastfreundschaft genießen. Mit Sergej, einem Programmierer, schlürfte ich auf dem märchenhaften Kremlgelände Kaffee. Während den Eingangsturm ein Sowjetstern schmückt, zeugen die Monde von der muslimischen Tradition der Tataren. Doch außer dem Kreml und dem Baumannboulevard verfügt die großflächige Millionenstadt Kasan über wenig architektonische Denkmäler. Kriege, Feuersbrünste und politische Umbrüche forderten wie in vielen Städten ihren Tribut. Kasan, in diesem Jahr Gastgeberin für die 27. Sommer-Universiade, einen sportlich-friedlichen Wettkampf der Weltjugend, wirkt jung und weltoffen. Wegen des sportlichen Wettstreits erfolgen die Ansagen in der von neu geschultem Personal polterig-aufmerksam bewachten Metro dreisprachig: tatarisch, russisch und englisch. Bevor ich die Stadt verlasse, bittet mich ein junger Mann mit gutem Job in der Gastronomieinspektion zu einem Treffen, im Gepäck die Fragen seiner Freundin von der Komsomolskaja Prawda, die es nicht rechtzeitig zum Treffpunkt geschafft hat.

Auf dem Weg nach Tschelny, wie es die Einheimischen kurz nennen, ruft der über die Steppenlandschaft blasende Gegenwind bei mir eine Überanstrengung der linken Achillessehne hervor. Ich merke es erst am nächsten Tag. Da liegt der erste »Massenempfang« der Tour, die köstliche Bewirtung mit heißem Tee durch mehrere Dutzend Jugendliche auf dem zentralen Platz von Tschelny, hinter mir. Mit Jurist und Tausendsassa Daniil gehe ich zum Chefarzt des Kinderkrankenhauses, von dort zum Traumatologen. Überall werden wir vorgelassen. »Wir mögen Ausländer«, erklärt Daniil. Der Traumatologe rät, meine Hacke für eine Woche in Gips zu packen. Als meine Gesichtszüge entgleisen: »Es geht auch anders – Bandage, Alkoholkompressen und Schmerzmittel. Wir werden sehen.« So hangele ich mich von Tag zu Tag, zum Schluß ist doch eine Woche rum. Inzwischen habe ich den Gastgeber gewechselt, schlafe jetzt in der »junge Arbeitskräfte-WG«. Als ich an einem heißen Tag – die zögerlich voranschreitende Genesung treibt mich immer wieder zum Strand der Kama meinen Brustbeutel mit Geldkarte suche, nicht finde, die ersten Schritte nach Verlust meiner Geldquelle erwogen werden, der Brustbeutel wieder da ist, liege ich mir mit meinen Gastgebern vor Freude in den Armen. Dabei gibt der Fahrradständer krachend nach. Am nächsten Tag komplettiere ich mein Fahrrad mit einem Ständer aus russischer Produktion, den Dima mit Rohrschelle verstärkt. Wir wetten (ich dagegen, er dafür), daß der Ständer bis Wladiwostok hält.

Doch zunächst führt mich mein Weg weiter durch Tatarstan: Die Menschen hier wirken geschäftig, die Autofahrer halten (wegen drastischer Strafmaßnahmen) selbst an unmarkierten Fußgängerüberwegen, es fallen wenig Schnapsleichen am Tag ins Auge, im ganzen Land herrscht rege Bautätigkeit. Vielleicht deswegen wird Tatarstan als das Dubay Rußlands bezeichnet.
Uwe Meißner


Zurechtgebogen
Ende Januar rief mich ein Redakteur des MDR-Kulturmagazins »Titel, Thesen, Temperamente« (ttt) an und erklärte mir, man wolle in einer Sendung anläßlich des 80. Jahrestags des Reichstagsbrandes mein gemeinsam mit Wilfried Kugel verfaßtes Buch »Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation« (s. Ossietzky 8/13) vorstellen. Ich sagte ihm ein im Telefonat angefragtes Interview zu. Wenige Tage später meldete sich bei mir ein anderer Mitarbeiter des Magazins, der ankündigte, er werde das Interview mit mir führen. Aufnahmeort: Berlin. Erst nach meiner Ankunft in Berlin teilte mir der MDR-Mitarbeiter auf Nachfrage mit, er habe bereits Sven Felix Kellerhoff, Vertreter der These von der Einzeltäterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe und damit mein Gegner in der Reichstagsbrand-Kontroverse, für die Sendung interviewt, versicherte mir aber, man werde meine und Kellerhoffs Positionen und Argumente in dem Beitrag ohne Wertung gegenüberstellen. Das Interview inklusive Außenaufnahmen dauerte gut vier Stunden. Meine Bitte, die Sendung vor Ausstrahlung sehen zu dürfen, wies der ttt-Mitarbeiter, zugleich Autor des Beitrags, zurück.

Als ich am 17. Februar die entsprechende ttt-Ausgabe im Fernsehen sah, war ich überrascht, denn mit dem angekündigten Beitrag hatte der gesendete Clip nicht das Geringste zu tun. Während Kellerhoff und der ebenfalls interviewte Historiker Jürgen Wendt mit jeweils zwei O-Tönen vertreten waren, wurde von mir lediglich ein aus dem Zusammenhang gerissener kurzer O-Ton gesendet, aus dem sich für den Zuschauer nicht ansatzweise erschließen ließ, welche These ich in der zentralen Frage der Täterschaft vertrete. Obendrein wurde in der Untertitelung zu meinem O-Ton der Titel unseres Buches nicht korrekt genannt, der Untertitel fehlte – während Kellerhoffs 2007 erschienenes Buch in voller Länge genannt wurde. Dessen Darstellung der Brandstiftung als angebliche Tat eines rätekommunistischen Einzeltäters blieb damit unwidersprochen. Meine Anwesenheit in dem Beitrag hatte demnach eine reine Alibi-Funktion.

Ende Februar untersagte ich dem Sender daraufhin schriftlich jede weitere Verwendung der von mir erstellten Bild- und Tonaufnahmen. In einem Schreiben des MDR-Fernsehdirektors wies dieser meine Kritik zurück. Gleichzeitig ging mir ein Vertrag mit umfangreichen Rechteabtretungen zu – mit der Aufforderung, diesen zu unterzeichnen. Ein merkwürdiger Vorgang, da von einem Vertrag zuvor nie die Rede gewesen war. Ich unterzeichnete ihn, strich jedoch die Passagen mit den Rechteabtretungen. In einem weiteren Schreiben Mitte März konfrontierte ich den MDR-Fernsehdirektor mit einem Brief seiner Mitarbeiter vom 21. Februar. Darin hatten diese auf meine Nachfrage erklärt: »Wir verstehen Ihre Enttäuschung. Tatsächlich ist es uns in diesem Falle nicht gelungen, das, was wir uns für den Beitrag vorgenommen hatten, einzulösen. Unsere Absicht, Ihre Argumente denen von Sven-Felix Kellerhoff gegenüberzustellen, hat sich in der Praxis und in der gebotenen Kürze eines Sechs-Minuten-Beitrages als nicht realisierbar herausgestellt.«

Daraufhin teilte mir der MDR-Fernsehdirektor im April »abschließend« mit: »Sie haben es bisher abgelehnt, den Ihnen diesbezüglich von uns angebotenen Vertrag in der üblichen Form zu unterschreiben. Sobald dies Ihrerseits erfolgt ist, werden wir die vereinbarte Summe für Ihre entstandenen Unkosten übernehmen. Ich betrachte diese Angelegenheit für den Mitteldeutschen Rundfunk nunmehr als erledigt.« Mit anderen Worten: Die mir vor dem Interview schriftlich zugesagte und nur an die Bedingung meiner Mitwirkung als Interviewpartner geknüpfte Übernahme meiner Kosten sollte von nachträglichen Rechteabtretungen an den Sender abhängig gemacht werden. Das könnte man als Nötigung bezeichnen.
Ich wandte mich nun mit einer Beschwerde an den MDR-Rundfunkrat, der diese annahm und an die Intendantin des MDR weiterleitete. Ende Mai lenkte die Intendantin des Senders, Karola Wille, ein: Die Überweisung des vereinbarten Betrags sei in die Wege geleitet worden. »Die Redaktion hat den ttt-Beitrag im Archiv mit einem Sperrvermerk versehen […] Ich hoffe, daß Sie trotz der mit dem Interview verbundenen Umstände und den unterschiedlichen Ansichten zum Inhalt des ttt-Beitrags dem MDR und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk weiterhin gewogen bleiben [...]« Man wird sehen.
Alexander Bahar


Walter Kaufmanns Lektüre
»Ich hatte großes Glück im Leben. Ich konnte und kann das tun, worauf ich Lust hatte und noch immer habe: Theater spielen, Filme drehen, Bilder malen, lesen, mit Freunden feiern und lachen, und eine verrückte, liebende Mama sein, bis der Vorhang fällt.«

Mit wenigen Worten gelingt es der Antoni, das Leitmotiv ihrer Autobiographie anklingen zu lassen. Ihr ist ein Schauspielerbuch par excellence gelungen, in dem auch Privates seinen Platz hat. Und wenn sie im Epilog ihre harmonischen Ehejahre ausspart, sie nichts über ihren Mann Malte hinzufügt, der sie »in schwersten Tagen und schönsten Nächten umarmte«, dann sicher wohl, weil sie in ihrem letzten Liebesbrief an ihn alles gesagt hat. Diese Zeilen, die im Wortlaut (und sicherlich in ihrem ureigensten Wortlaut) wiedergegeben sind, gehen zu Herzen – sie sind ein Hohelied an die Liebe, die Ehe, die Treue. Schöneres hat schöne Literatur nicht … Allein dieser fünf Seiten wegen empfiehlt sich das Buch, aber auch der Abschnitte wegen, die die Kindheit und Jugend der Antoni beschreiben, die Anfänge der jungen Schauspielerin, und wie ihr auf Potsdamer Bühne die Chance gegeben wird, sich freizuspielen, sich den Weg nach Berlin zu erspielen, zur Volksbühne, zum Berliner Ensemble, zu Filmen der DEFA, zum festen Ensemblemitglied des Berliner Ensemble, mit dem sie zu Gastspielen in die weite Welt reisen wird.

Das Buch spiegelt zu allem die Höhen und Tiefen eines Lebens im sozialistischen Deutschland wider, einem Leben, wie wir es kannten und speziell wie sie selbst es kannte – sie, die Bühnenkünstlerin und selbstbewußte Bürgerin, die sich stets mit all jenen verbunden fühlte, die ein freies Land mit frei denkenden Menschen wollten, eine DDR, so wie sie am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz nicht zuletzt auch von Schauspielern ausgerufen wurde.

»Noch immer sprühen aus ihr Lebenslust und Spielfreude«, schreibt Christoph Hein zu Anfang. »... mit ihren leuchtenden Augen, ihrer unverwechselbaren Stimme, ihrem Körper vermag sie die größten Bühnen zu füllen, das Publikum zu verzaubern und zu begeistern. Diese Frau ist eine der ganz Großen des Theaters, des Films, des Spiels.«
Und so kommt sie auch in ihren – unter Mitarbeit von Brigitte Biermann gut sortierten und zu einem lesenswerten Buch zusammengestellten – Erinnerungen und Aufzeichnungen auf den Leser zu.
Walter Kaufmann

Carmen-Maja Antoni/Brigitte Biermann: »Im Leben gibt es keine Proben«, Das Neue Berlin, 255 Seiten, 19,99 €


Alte Mythen modern
Die meisten seiner Bücher waren sehr genaue, chronikartige Darstellungen heutiger Schicksale und Begebenheiten. Schon der Titel kündigt Veränderung an. Wann war »vor der Zeit«? Nach Christoph Hein: Damals, als die alten Götter herrschten und es sowohl untereinander als auch mit den Menschen »trieben«. Also: Die Jahre unter Zeus bis hin zu der Zeit, als Odysseus endlich aus dem Trojanischen Krieg heimkehrte.

Wie viele andere hat sich der Autor an Neufassungen der Heldensagen versucht, und er macht das ganz auf seine Art. Er erzählt das Bekannte aus der Sicht heutiger Erfahrung, und er erzählt präzise, so daß bestimmte Details entschlüsselt, ja korrigiert werden. Es ging den Göttern und den Helden wie uns Leuten. Sie stritten um die Orakel, und das Ganze entwickelte sich ganz nach den Gesetzen des Marktes. Sie straften mit dem Stuhl des Vergessens, und Asklepios bekam Alzheimer. Sie vergaßen nach langen Jahren Krieg zivile Gepflogenheiten, und eigentlich das war das Dilemma von Odysseus’ berühmter Heimkehr. Auch das Geheimnis, warum die vielen Frauen, die Zeus mit seiner Liebesbrunst verfolgt und »erlegt« hatte, jungfräulich blieben, wird gelüftet.

Sie machen Spaß, diese modernen Interpretationen vorzeitlichen Menschenlebens!
Christel Berger

Christoph Hein: »Vor der Zeit. Korrekturen«, Insel Verlag, 188 Seiten, 19,95 €



Press-Kohl
Im Ossietzky-Heft 16/13 beschäftigte sich Wolfgang Eckert mit dem Büchlein »Innokonservation« von Andreas Eichler (Mironde Verlag). Noch weiß ich nicht, was Innokonservation sein könnte, aber das liegt wahrscheinlich an der Hitze.

Uwe Meißner beschreibt seine anstrengende Reise und den Stolz des radelnden Touristen der von Berlin nach Wladiwostok per Rad und mit einer Luftpumpe gelangen will: »Rußland ist groß, die Verhältnisse, auch die Menschen, nicht so einfach zu bestimmen.«
Wer hätte das gedacht.

Und da die Anstiege, wie es scheint, nicht enden wollen, darf ich höflich bemerken, daß die tschuwaschische Hauptstadt Tscheboksary heißt. Man muß nicht alles wissen.
Felix Mantel