Seit mehr als eineinhalb Jahren tobt in der Ostukraine der blutige Bürgerkrieg. Begonnen hat er mit dem Staatsstreich vom 20./21. Februar 2014 in Kiew, der, wie sich Barack Obama ein Jahr darauf in einem CNN-Interview brüstete, von den USA eingefädelt worden war. Bereits 45 Tage danach besetzten prorussische Gegner der Putschisten die Schaltstellen der öffentlichen Macht in mehreren ostukrainischen Städten und riefen die »Unabhängige Volksrepublik Donezk« aus. Wenig später erklärte sich auch das Gebiet Lugansk zur Volksrepublik.
Die neuen Kiewer Machthaber hatten eine solche Entwicklung nicht vorausgesehen. Doch, beraten von ihren US-amerikanischen Freunden, reagierten sie rasch und äußerst brutal. Nur eine Woche nach der Ausrufung der Donezker Republik entsandten sie reguläre Truppen sowie sogenannte Freiwilligenverbände zu einem »Anti-Terror-Einsatz« in die abtrünnigen Gebiete. Ernsthafte Versuche, den Konflikt friedlich zu lösen, unternahmen sie nicht. Die Waffen sollten entscheiden. Der schreckliche Bürgerkrieg begann und damit das Leid der Bewohner der Ostukraine.
Nach Angaben der UNO fielen allein bis Juni 2015 über 6.000 Frauen, Männer und Kinder dem Krieg zum Opfer. Laut Informationen ukrainischer Menschenrechtler sind 1,5 bis 2 Millionen Menschen vor den Kriegsgeschehnissen innerhalb des Landes geflohen, eine weitere Million Menschen in die benachbarten Länder. Wohnhäuser, öffentliche Gebäude, Kindergärten und Schulen in bislang nicht erfasster Zahl wurden zerstört oder stark beschädigt. Vereinbarte Waffenstillstände hielten zumeist nicht oder nur wenige Tage. Für ihren Bruch wurde mit schöner Regelmäßigkeit die gegnerische Seite verantwortlich gemacht. Das geschah zum Beispiel auch, als das Zentrum der Hochburg der Sezessionisten, Donezk, unter Beschuss geriet. Der Spiegel berichtete von »dramatischen Szenen«: »Die Einschläge erfolgten um 12.50 Uhr. Es müssen ziemlich viele Geschosse gewesen sein. Es hörte sich wie ein Raketenwerfer an … Die Geschosse trafen unter anderem die Einkaufszentren Green Plaza und Planeta … Auch mehrere Wohnhäuser an der Technischen Universität sind betroffen … Auf der Straßenkreuzung lagen drei Menschen: eine ältere Frau – beide Beine blutüberströmt – und gegenüber zwei jüngere Männer, von denen einer sofort tot war … Die Menschen sind aufgefordert, nicht mehr auf die Straße zu gehen. Die Einschläge kamen offenbar aus dem Norden …« Selbst für den Spiegel-Korrespondenten bestand kein Zweifel daran, dass Kiewer Truppen das Stadtzentrum beschossen hatten. Kiew aber leugnete jegliche Verantwortung. Doch wer konnte denn ernsthaft annehmen, dass die Volksrepublikaner das Zentrum ihrer eigenen Metropole beschießen?
Längst schon haben die Kiewer Staatsstreichsieger auch zu anderen, perfideren Waffen gegriffen. Auf Anordnung von Präsident Poroschenko wurden sämtliche staatliche Leistungen für die abtrünnigen Gebiete, darunter unter anderem für Schulen, Krankenhäuser, Feuerwehren und andere Notfalldienste, gestrichen. Die Zahlung von Renten und anderen Sozialleistungen für die Bürger der Ostukraine, um deren Wohl man angeblich tief besorgt ist und die für das heilige einige Vaterland zurückgewonnen werden sollen, wurde gestoppt.
Aber nicht genug damit, das Arsenal der Vaterlandsverteidiger war längst nicht ausgeschöpft. Durch gezielte Bombardierungen von Trinkwasseranlagen und Elektrizitätswerken wurden Hunderttausende von der Wasserversorgung abgeschnitten. Wo es noch möglich war, wurden zusätzlich in Stadt- und Landbezirken, so in Lugansk, die Wasserleitungen abgedreht. Nach UNESCO-Angaben befinden sich 1,3 Millionen Kinder und Erwachsene durch den Trinkwassermangel in großer Gefahr. Der Trinkwasserentzug für die Zivilbevölkerung ist nicht nur an sich ein schwerer Verstoß gegen das Menschenrecht auf Gesundheitsfürsorge und Leben, er verletzt auch völkerrechtliche Prinzipien, darunter die Deklaration der UN-Vollversammlung vom 28. Juli 2010, mit der der Zugang zu sauberem Wasser zum Menschenrecht erklärt wurde. Gleichermaßen verletzt das Vorgehen die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach selbst in Krisensituationen der Trinkwasserentzug strikt untersagt ist.
Seit langem heißt es: Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein. Die Kiewer Machthaber handeln nicht minder brutal: Und wollt ihr nicht unsere Landsleute sein, dann lassen wir euch verdursten und verrecken.
Das ist doch wahrlich eine humane Bürgerkriegsführung. Und die Merkel-Regierung, die stets und überall das Banner der Menschenrechte hochhält, stellt sich solidarisch an die Seite der Kiewer Vaterlandsverteidiger. Auf einer Pressekonferenz anlässlich des Besuches Poroschenkos in Berlin Mitte im März des Jahres fasste die Kanzlerin diese Haltung mit schönen, wenn auch nicht ganz ausgefeilten Worten zusammen: »Wir hatten jetzt eine sehr intensive Diskussion – was aber nicht heißt, dass es eine kontroverse Diskussion gewesen wäre ... Ich möchte … meinen großen Respekt über all die Anstrengungen, die Präsident Poroschenko und auch die ukrainische Regierung und das Parlament unternehmen, um zu einer friedlichen Zukunft für die Ukraine zu kommen, zum Ausdruck bringen.« Der Gast aus Kiew revanchierte sich mit der Erklärung, dass er »der Bundeskanzlerin für die ständige Aufmerksamkeit, für die ständige Unterstützung, die die Ukraine im Kampf gegen die schwierige Situation im Donbass und in ihrem Kampf um die territoriale Integrität des Landes von der deutschen Regierung bekommt, sehr dankbar« sei.
Als wenig später der ob seiner Friedensliebe und Kompromissbereitschaft hochgeschätzte ukrainische Premier Jazenjuk Berlin besuchte, war es ihm ein Herzensbedürfnis, ebenfalls der Kanzlerin Dank zu sagen und die »bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine« als »beispielhaft« zu bezeichnen. Eigentlich hätte er sie als »beispiellos« charakterisieren müssen, denn sein Präsident hatte während seiner vorangegangenen Staatsvisite aufgelistet, dass er mit der Kanzlerin seit seiner Amtseinführung (7. Juli 2014) »60 Telefonate geführt« und sie »bereits elfmal getroffen« habe. Da kann sein Amtsbruder Gauck nicht mithalten. Dafür sorgte er für ein zu Herzen gehendes Foto, als er Arm in Arm mit dem zum Präsidenten aufgestiegenen Schokoladenoligarchen am 1. Jahrestag des Staatsstreiches am »Marsch der Würde« in Kiew teilnahm und der Opfer auf dem Maidan gedachte. Als Russland zum 70. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus einlud und der Opfer des Zweiten Weltkrieges, darunter 28 Millionen Bürger der Sowjetunion, gedachte, war er leider verhindert.
Schon die Griechen kannten lange vor der heutigen Zeitrechnung ein Sprichwort, das da lautet: Zeig mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist.