Auch dieses Mal standen, wie schon so oft in Egon Bahrs politischem Leben, Moskau und Washington im Zentrum seiner Ausführungen. »Beide Länder brauchen ihr Zusammenwirken … Dabei wird es mehr um Interessen als um Werte gehen. Der Irrglaube einer Wertegemeinschaft mit Amerika ist schon während des Kalten Krieges zerbrochen. Die Unterschiede der Werte sind teils zugedeckt worden, teils nicht ins Bewusstsein gerückt.«
Sätze wie diese waren das Markenzeichnen des Politikers Egon Bahr: mit seiner klaren Stimme schnörkellos, präzise und pragmatisch in den Raum gestellt, schnell die Sache auf den Punkt bringend. Voll zwingender Logik, aber mit einer scheinbar artistischen Leichtigkeit ziseliert.
»Verantwortungspartnerschaft mit Washington und Moskau« hatte Bahr als Titel dieser Rede gewählt, es war eine seiner letzten. Er hielt sie am 26. März dieses Jahres in Berlin, als »Prof. Dr. Egon Bahr für seine Verdienste um die deutsch-russischen Beziehungen mit dem Dr. Friedrich Joseph Haass-Preis« durch das Deutsch-Russische Forum ausgezeichnet wurde, vor rund 400 Gästen und Mitgliedern.
Egon Bahr fuhr fort: »Das nationale Interesse der USA ist von der moralischen Gewissheit durchdrungen, das auserwählte Volk Gottes zu sein. Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein sind unlöslich verschmolzen. Es wäre sinnlos, das zu kritisieren, weil es von europäischen Vorstellungen abweicht. Die amerikanische Position stellt einen moralischen Maßstab dar, der nicht verhandelbar ist. Das entspricht auch der amerikanischen Haltung, sich nicht durch fremde Ordnungen binden zu lassen. Das hat mit Macht und weniger mit Werten zu tun. Die Globalmacht USA wird sich nur binden, wo ihr Interesse das rät. Sie wird insgesamt ihre Politik der freien Hand verfolgen, um ihren Einfluss zu vergrößern.«
Schon 1997 habe Zbigniew Brzezinski (Anm.: einer der regierungsnahen US-amerikanischen Globalstrategen) unter der Überschrift »Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft« nach einem globalen Überblick Westeuropa als Protektorat seines Landes definiert.
Inzwischen habe sich in kurzer Zeit die politische Szenerie beunruhigend verschlechtert. Aus Partnerschaft – zwischen Russland und den USA – sei Konfrontation geworden.
Bahr: »Wenn beide Seiten fortfahren, militärische Aufmärsche zu organisieren, mit den Waffen zu klirren und das Wort Abschreckung aus den Zeiten des Kalten Krieges wieder belebt wird, dann sind Sorgen erklärbar, ob diese Entwicklung beherrschbar bleibt. Wenn amerikanisches Verhalten den Eindruck erwecken kann, Russland in die Knie zwingen zu wollen, dann teile ich die Meinung von Horst Teltschik (Anm.: ein deutscher CDU-Politiker und Wirtschaftsmanager), es sei blanker Irrsinn; das hätten schon Napoleon und Hitler versucht.«
Laut Bahr sollten wir uns »darauf konzentrieren, zu Russland verlorenes Vertrauen wieder herzustellen. Diese Phase könnte man als kooperative Existenz bezeichnen. Dieses über bloße Koexistenz hinausgehende Konzept gestattet den gezielten Ausbau unserer Zusammenarbeit.«
Gegen Ende der Rede dann fast ein Vermächtnis: »Frieden verlangt auch den Respekt vor Staaten, die nach westlicher Auffassung keine Demokratie sind und den Respekt, dass jeder Staat über seine innere Ordnung entscheidet. Für Saudi-Arabien und China ist das Realität. Das als globales Denken in globalen Fragen zu verallgemeinern, fällt schwer. Die Mehrheit der Länder und Erdteile lebt mit anderen Kulturen und Werten und erwartet die Achtung dafür. Das gilt auch für die veränderten Beziehungen zwischen Europa und Amerika. Man könnte es eine berechenbare Unabhängigkeit nennen, die den Kitt der gemeinsamen Interessen nicht verletzt. Washingtons Führungswillen ist ungebrochen, gerade im ›friedlichen Krieg‹. Wir können Russland nicht aufgeben, weil es Amerika nicht gefällt.«
Egon Bahr ist in der Nacht zum 20. August im Alter von 93 Jahren gestorben. Die Wegmarken, auf die er am Ende seines Lebens zurückblicken konnte, sind historisch: Unterhändler in Moskau, Ost-Berlin und Warschau bei der Aushandlung des Moskauer Vertrags, des Warschauer Vertrags, des Transitabkommens und des Grundlagenvertrags, den Bahr für die BRD und Michael Kohl für die DDR unterzeichnete. »Wandel durch Annäherung«, »Politik der kleinen Schritte«, diese Leitlinien der Ostpolitik gehen auf Bahr zurück. Er war ihr entscheidender Vordenker und Mitgestalter. Bahr war der »Architekt der Entspannungspolitik« unter dem Bauherren Willy Brandt. Er hat vermutlich mehr für die Beendigung des Kalten Krieges getan, als manch ein anderer der damals Handelnden. 1980 wurde Bahr zudem Mitglied der gerade gegründeten internationalen »Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit« unter dem Vorsitz des schwedischen sozialdemokratischen Politikers Olof Palme, der 1986 ermordet wurde.