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Titel1715

Der große Happen  (Wolf Gauer)

Während ich dies schreibe, lärmt ringsum wieder einmal das Protestritual des satten brasilianischen Bürgertums, der »panelaço«: Man schleppt sich nach dem Dinner auf den Balkon und klappert mit Töpfen, die ansonsten nur das Personal in die Hände kriegt. Vorzugsweise dann, wenn sich Präsidentin Dilma Vana Rousseff im Fernsehen an die Nation wendet. Brasiliens Begüterte wollen nicht, was Rousseff will. Sie wollen keinen sozialen Ausgleich, keine Landreform, keine Armen im Flugzeug, keine Schwarzen in der Universität. Sie wollen den alten Staat der »Eliten«, der ihre Privilegien verwaltet. Nicht den der Arbeiterpartei, der in zwölf Jahren 70 der 200 Millionen Brasilianer ein Bankkonto verschafft hat. Sie verzeihen Rousseffs knappen Wahlsieg im Oktober 2014 so wenig wie die New York Times oder die deutschen Parteistiftungen.


Was schert die Töpfetrommler die so mühsam nach der Militärdiktatur (1964–1985) eingeübte Demokratie und der trotz vieler Mängel beachtliche soziale Fortschritt? Brasiliens Eintreten für den »Mercosur«, für Solidarität mit Kuba und Venezuela, für die lateinamerikanische Integration und für eine grundsätzlich multipolare Weltordnung? Vergessen wir nicht: Das infantile Blechgebimmel wurde von chilenischen Großagrariern aufgebracht und läutete ab 1971 den blutigen Sieg des Kissinger-Pinochet-Faschismus über die gewählte sozialistische Regierung Allende ein, später auch die US-gesponserten Putschversuche gegen Präsident Hugo Chávez Frías in Venezuela.

»Tod für Lula«
Im Schatten der NATO-Kriegstreiberei in Europa erlebt Brasilien eine völlig neue, deutlich maidan-mäßig synchronisierte Hasskampagne einschließlich erster tätlicher Ausschreitungen und Rechtsbeugungen. Sie richten sich gegen die Präsidentin, gegen ihren Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, gegen die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) und gegen unbequeme Linke aller Couleur. »Ein Phänomen«, wie selbst der frühere, rechtslastige Wirtschaftsminister Luiz Carlos Bresser Pereira zugibt, »das ich nie in Brasilien gesehen habe. Ein plötzlicher, kollektiver Hass der Oberschicht, der Reichen, auf eine Partei und eine Präsidentin. Nicht Besorgnis oder Angst, sondern Hass. Hass, weil da zum ersten Mal eine Mitte-links-Regierung ist, die auch links geblieben ist. Sie hat Kompromisse gemacht, sich aber nicht ausgeliefert [...]. Hass, weil die Regierung eine starke und klare Präferenz für die Arbeiter und die Armen gezeigt hat.« (Folha de São Paulo, 1.3.15, diese Übersetzung und alle folgenden: WG).


Obwohl auch Brasiliens Konjunktur schwächelt, ist die Beschäftigungslage immer noch gut und die Konsumversorgung die beste der 41 Jahre, die ich bislang in Brasilien verbracht habe. Trotz der Blockierung aller sozial fortschrittlichen Gesetzesvorlagen durch die Oppositionsparteien und trotz der erwähnten Kompromisse zugunsten der Rechtskonservativen. Ex-Präsident Lula konnte am 1. Mai der Rechten wahrheitsgemäß vorhalten: »Niemals haben Industrie und Banken so gut verdient wie in den Jahren der PT-Regierung.«


Dennoch durchlöcherte am 30. Juli ein Sprengkörper das Tor des »Instituto Lula«, das sich um soziale Inklusion in Lateinamerika und Afrika bemüht. Derweil versuchen Länderstaatsanwaltschaften, Bundesrichter, Bundespolizei und der Bundesrechnungshof Lula und Rousseff persönlich mit den Korruptionsvor-würfen um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras in Verbindung zu bringen. Und die Hetztruppe »Morte ao Lula« (»Tod für Lula«, 4000 Mitglieder) kann auf Googles Facebook ungehindert zu Gewalt und Mord motivieren.

Coup der Konzernmedien
Präsidentin Rousseff ist weitgehend entmachtet, ihre parlamentarische Unterstützung ist dahin, ihre Neun-Parteien-Koalition (»Kraft des Volkes«) vom Oktober 2014 zerbröselt. Teils wegen des zunehmend kapitalorientierten, technokratischen Kurses ihrer Regierung, teils aus pragmatischem, medial verwertbarem Ärger über die Rückfälle einiger PT-Kader in die traditionelle Korruptionskultur – ironischerweise aber aufgedeckt vom Justizapparat der PT-Regierung. Die Schuldigen wurden verurteilt und sitzen in Haft – ein Novum.


Die großen rechts-sozialdemokratischen Oppositionsparteien PMDB und PSDB bestimmen heute die parlamentarische Szene. Ihr weiterhin und ringsum nachgebeteter zentraler Vorwurf der »Korruption« hinderte sie selbst nicht daran, am 27. Mai ungeniert die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmerspenden zu legalisieren. Eine furiose und mit deutschen Verhältnissen vergleichbare Medienkampagne gibt Rückenwind. Etwa fünf gleichgeschaltete Familienkonzerne bestimmen, was die Brasilianer zu denken haben. Rezept: täglich drei abwertende Nachrichten über Rousseff, Lula und PT, je eine über China und Putin. Folglich lehnen 71 Prozent der Bevölkerung die Präsidentin ab – laut Befragung durch Institute derselben Medienzaren. Der spanische Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet stuft die »mediale Schlacht«, den »Medien-Coup«, als wichtigstes Kennzeichen der aktuellen lateinamerikanischen Auseinandersetzungen ein. Private Medienunternehmen übernehmen die Funktion der rechtskonservativen Parteien, sobald es gegen die Linke geht.

Zermürbung der Präsidentin
Der gegenwärtige Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha (PMDB) koordiniert und fanatisiert Rousseffs parlamentarische Demontage, die auf Amtsenthebung beziehungsweise Selbstaufgabe abzielt. Er kommt aus dem äußerst berüchtigten Dunstkreis des ehemaligen Präsidenten Fernando Collor, der 1992 wegen Korruption und einer Rekordinflation von 1200 Prozent zurücktreten musste. Cunha setzte danach auf die wachsende parlamentarische Präsenz der einflussreichen evangelikalen Sekten Brasiliens und vertritt heute deren machtpolitische und finanzielle Interessen. Wegen passiver Bestechung in Höhe von mindestens fünf Millionen US-Dollar wackelt sein Stuhl, der Bundesanwalt plädiert auf 180 Jahre Haft. Im Gegenzug bedroht Cunha die Präsidentin damit, dass er jederzeit elf Amtsenthebungs-Anträge seiner Gesinnungsgenossen auf die Tagesordnung setzen könne, falls man ihm auf die Pelle rücke. Er ist niveautypisch für den mittlerweile sozialdemokratisch beherrschten Kongress. Hinter Rousseff stehen lediglich noch die kleine kommunistische PCdoB (357.000 Mitglieder), die sozialistische PSB und die traditionelle Arbeiterpartei PDT, der Dilma Rousseff selbst entstammt.


Frei Betto (Bruder Betto), Dominikaner und Befreiungstheologe, Weggefährte und Berater von Fidel Castro und Ex-Präsident Lula, glaubt angesichts des Drohszenarios nicht an ein Amtsenthebungsverfahren: »Es gibt kein Motiv dafür [...]. Selbst wenn Dilma persönlich weitere drei Jahre aushalten würde, fürchte ich eher, dass sie aufgibt« (Brasil 247,10.8.15). Folgerichtig konzentriert die Rechte ihr Feuer zunehmend auf den proletarischen Altpräsidenten Lula. Er nämlich könnte 2018 wieder zur Wahl antreten, und seine Wähler sind die »70 Millionen«, die nicht vergessen haben, wer ihnen einen Vorschuss auf Umverteilung und gesellschaftliche Inklusion ermöglicht hat.

Washingtons langer Arm
Nicht alle Fäden werden in Brasilien gesponnen. Eine Senatskommission unter Führung von Rousseffs Wahlgegner Aécio Neves (PSDB) reiste im Juni nach Venezuela, um sich mit den politischen »Opfern« der Regierung Maduro zu solidarisieren. Wasserträger der USA, die sich sowohl in Washington als auch in der EU profilieren wollen. Der kühle, aber korrekte Empfang in Venezuela geriet in den »atlantischen« Medien zu einer Bedrohung von Leib und Leben: »Brazil senators flee Venezuela attack« (Brasilianische Senatoren flüchten vor venezolanischer Attacke, BBC, 19.6.15).


Seit dem Zweiten Weltkrieg versuchen US-amerikanische Politiker und regierungsnahe Institutionen, Brasilien als »Schurkenstaat« mit nuklearen Ambitionen zu etikettieren. Sie können dabei auf hiesige Sympathisanten zählen, laut Sachkennern auch in den drei Gewalten: Am 28. Juli erfolgte überraschend die Inhaftierung des Vizeadmirals a.D., Ingenieurs und Wissenschaftlers Othon Luiz Pinheiro da Silva (76). Dem mittlerweile pensionierten Militär und nur noch privatwirtschaftlich tätigen Wissenschaftler und Energiemanager wird Korruption vorgeworfen, der Erhalt von 4,5 Millionen US-Dollar vonseiten eines bekannt »generösen« Baukonzerns. Ein Vorwurf, dessen Klärung andere Beschuldigte in Freiheit abwarten können. Da Silva aber ist eine Symbolgestalt brasilianischer Eigenständigkeit und Selbstachtung, kein Joseph Blatter, seine Inhaftierung eine offene Machtdemonstration gegenüber Brasiliens linker, US-kritischer Regierung. Er dirigierte seit 1978 mit viel Geschick und Beharrlichkeit die autonome Nuklearforschung des Landes, die nicht auf die Bombe abzielt, sondern auf den Bau nuklearer U-Boot-Antriebe und Kleinkraftwerke. Mit bemerkenswerten technischen Lösungen, vor allem beim Bau neuartiger Zentrifugen zur Urananreicherung, und gegen den ständigen Widerstand der USA. Da Silva hatte die besondere Unterstützung von Präsident Lula, der dagegen US-amerikanische Pläne einer Raketenabschussbasis im Staat Maranhão und eines Marinestützpunkts in Rio de Janeiro abgelehnt hatte. Die New York Times bejubelt die Festnahme »of that figure« und verleumdet den Admiral als »Vordenker« eines »geheimen nuklearen Militärprogramms in den 70er und 80er Jahren« (NYT, 28.7.15).


Admiral da Silvas Inhaftierung erinnert an die Anfänge der brasilianischen Nukleartechnologie in den 1950er Jahren, die sich auf die reichhaltigen Thoriumvorkommen in Amazonien stützte. Brasilien hatte damals in der (noch weniger als heute souveränen) BRD verschiedene Zentrifugen geordert, die bei der Verladung in Göttingen und Hamburg von den Alliierten beschlagnahmt wurden. Der damals federführende Wissenschaftler Álvaro Alberto, ebenfalls Admiral, wurde auf US-Druck gezwungen, das eigenständige und wissenschaftlich aufsehenerregende Nuklearprogramm Brasiliens einzustellen.


Admiral da Silvas Verhaftung ist auch deshalb brisant, weil er energisch den Bau der von Siemens/KWU und Areva/AN gelieferten Kernkraftwerke Angra II und Angra III vorangetrieben hatte. Angra I war dagegen noch aus den USA bezogen worden. Sein tatsächliches Verbrechen ist, dass er, obwohl Absolvent des elitären US-amerikanischen Technologieinstituts MIT, nicht vor dem Imperium kuschte.


Brasilien ist der ganz große Happen, der längst wegen seiner BRICS-Zugehörigkeit, wegen seiner enormen Reserven an Agrarfläche, Süßwasser, Sonneneinstrahlung, Öl, Mineralien und Arbeitskraft auf der imperialen Abschussliste steht. Die innenpolitische Krise, die Gewissenlosigkeit und politische Unbildung breiter, ökonomisch saturierter Wählerkreise und ihrer parlamentarischen Vertreter, animieren zum Komplott von rechts. Erste landesweite Demonstrationen wenden sich aber inzwischen dagegen. Rund 200.000 Menschen skandierten am 20. August »es gibt keinen Coup«, »Cunha raus« und »Dilma bleibt«. Sie repräsentieren das Volk: 24 Prozent mit einem Einkommen unter 500 und fünf Prozent über 5000 Euro.


Sollte die brasilianische Linke dennoch scheitern, ist ganz Lateinamerika binnen kurzem wieder Hinterhof der USA. Das BRICS-Bündnis verlöre einen wichtigen Partner und der ärmere Teil der Welt einen unersetzlichen Helfer und Hoffnungsträger.