Vom 19. bis 21. Juli gedachte man in Genua jenes G-8-Gipfels vor fünfzehn Jahren, auf dem die acht größten Weltmächte weitere »neoliberale« Strategien zur Weltwirtschaft und -politik festlegten, die die Welt inzwischen in das Chaos manövriert haben, inmitten dessen wir uns heute befinden. Die Teilnehmer des damaligen internationalen Gegengipfels »Eine andere Welt ist möglich« stellten entwicklungspolitische Alternativen für eine menschenmögliche Umwelt und soziale Gerechtigkeit vor, mit besonderem Blick auf die damals noch sogenannte Dritte Welt, deren Entwicklung vor allem durch ihre unerträgliche Staatsverschuldung bei den Banken der Ersten Welt gehemmt wurde. Die Forderungen des Gegengipfels nach Schuldenschnitt und Restrukturierung der Staatsfinanzen wurden schon damals von den Kirchen mitgetragen, auch der katholischen im »Giubileo«, dem »Heiligen Jahr« von 2000, die ebenfalls das jüngste Treffen mitgestaltete, im Geiste einer Vergebung von Schuld und Schulden.
Aber im Juli 2001 waren im Anschluss an die überwiegend friedlichen Demonstrationen mit etwa dreihunderttausend Teilnehmern Jugendliche mit bis dahin nicht gekannter Brutalität durch italienische Polizeiorgane drangsaliert und während der Haft in der Kaserne von Bolzaneto und der Diaz-Pertini-Schule die Menschenrechte de facto außer Kraft gesetzt worden. Auch zahlreiche junge Ausländer wurden Opfer von Misshandlungen, ein junger Genuese auf der Straße erschossen. Die Verantwortlichen im Staatsapparat sind bis heute nicht bestraft worden, die ausführenden Polizisten nur geringfügig, niemand von ihnen ist in Haft, während viele Demonstranten verurteilt wurden und zwei von ihnen noch immer im Gefängnis sitzen – eine bis heute in der Medienöffentlichkeit Italiens verdrängte Schande. Dass zeitgleich mit diesem 15. Jahrestag das italienische Parlament einen seit Jahren aufgeschobenen Gesetzentwurf, der Folterung in Polizeigewahrsam zum Straftatbestand erklären sollte, mit der fadenscheinigen Begründung fallen ließ, man könne den Ermessensspielraum der Polizei angesichts der bestehenden Terrorgefahr nicht einschränken, spricht eine deutliche Sprache.
Die damals fokussierte Schuldknechtschaft der Dritten Welt hat sich inzwischen weit in die Kernländer Europas ausgedehnt. Die Menschen nicht nur in Griechenland, sondern auch in vielen anderen Ländern ächzen unter den Finanzdiktaten der nicht gewählten Troika und müssen mitansehen, wie nicht nur ihre Renten- und Sozialsysteme wie Eis in der Sonne dahinschmelzen, sondern auch ihre demokratischen Rahmenbedingungen. Damit müsste eigentlich das Thema »Umbau und Abbau der Staatsverschuldung« in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in Europa gelangen. Denn von dem gegenwärtigen Europa wenden sich die Bürger ab, Brexit docet und nicht nur der.
Spätestens seit der umfassenden historischen Darstellung des Schulden-Komplexes, die David Graeber 2011 vorgelegt hat (»Debt: The First 5000 Years«, Melville House), wissen wir, dass nicht nur die gesamte Handelspraxis der vergangenen 5000 Jahre, sondern auch der jahrhundertelange Ausbau der kapitalistischen Produktionsweise auf Kreditsystemen beruht. Und wir wissen auch, dass es seit der Antike immer wieder zum periodischen Erlass der entstandenen Schulden kam, um das jeweilige Fundament der wirtschaftlichen Produktion zu erhalten und nicht die meisten Menschen zu permanenter Schuldknechtschaft zu verdammen – ein Zustand, der sich heute weltweit ausbreitet als wachsende Gefahr einer Schuldenbombe, die jederzeit explodieren kann. Im heutigen Finanzkapitalismus sind es die reichsten Länder, die die höchste öffentliche (und auch private) Verschuldung aufweisen: die USA, Japan, selbst China. Entscheidend für deren Stabilität ist dabei das jeweilige Verhältnis der Schulden zur Wirtschaftsleistung (BIP). So hat in Europa Deutschland zwar derzeit nominell die höchste Schuldenrate (mit über 2254 Milliarden Euro), aber aufgrund seiner wirtschaftlichen Stabilität auch die niedrigsten Zinskosten; das Verhältnis zum BIP liegt bei 83 Prozent, das heißt auch über der willkürlich festgelegten Maastricht-Norm von 60 Prozent, deren Einhaltung man von allen EU-Staaten verlangt.
Die Interessen von Gläubigern und Schuldnern stehen in einem diametralen Gegensatz zueinander. Das liegt auf der Hand. Die ersten sind nicht an einer raschen Rückzahlung, sondern an einer möglichst hohen, andauernden Verzinsung der Kredite interessiert, und die Schuldner genau am Gegenteil. Die Gläubiger allerdings haben die Macht und bestimmen die Bedingungen. Aufgrund der stetigen Abnahme der ökonomischen Wachstumsraten in den OSZE-Ländern (noch circa vier Prozent in den 1960er Jahren, heute bei einem Prozent und darunter) ist auch die private Verschuldung wieder angestiegen, die ihrerseits den Motor des Wachstums der Finanzbranche auf globaler Ebene antreibt. Letztere bewegt inzwischen digital fast die gesamte Geldmenge auf der Welt, das real kursierende Geld beläuft sich nur noch auf wenige Prozente des Ganzen.
Dieses Dilemma stand nun erneut im Zentrum der Konferenz im Genueser Dogenpalast: »Dal G8 di Genova alla Laudato Si': Il ›Giubileo‹ del debito?« Redner wie Tommaso Valentinetti, Erzbischof von Pescara, und Giovanni Ricchiutti Präsident von Pax Cristi in Italien, wie Eric Toussaint, Gründer des Internationalen Komitees für die Abschaffung ungerechtfertigter Schulden, der an den Schuldenkontrollen in Ecuador und Griechenland teilnahm, Marco Bersani von Attac/Italien, Alex Zanotelli, Guido Viale, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, beleuchteten die aktuelle Situation aus verschiedenen sozioökonomischen, rechtlichen und moralischen Perspektiven, die verdeutlichten, dass es höchste Zeit ist, die Schuldenfrage radikal anzugehen. Oder sollte der negative Schock, den die Troika Griechenland im Juli 2015 verpasst hat, so nachhaltig sein, dass die noch solidarisch denkenden Kräfte in Europa, so geschwächt sie auch sein mögen, sich auch damit abfinden? Dabei stellt Griechenlands Lage doch gerade eine Bankrotterklärung für jene Austeritätspolitik dar, die vorgab, der Krise beikommen zu können.
Am Beispiel Italiens, dessen hohe Staatsschulden unablässig anwachsen, obwohl der Staat seit gut 20 Jahren rigoros im Sozialsystem spart und Überschüsse im Primärhaushalt aufweist (also jährlich – vor Schuldendienst – mehr Einnahmen als Ausgaben hat), lässt sich die Situation knapp umreißen:
Der Schuldenberg ist erst in den 1980er Jahren unter der Craxi-Regierung (PSI) angewachsen – nach der fatalen Trennung (1981) der italienischen Staatsbank vom Finanzministerium, das die Staatstitel ausgibt und seitdem die Festsetzung der Zinshöhe dem internationalen Finanzmarkt freigeben musste. Die Staatsverschuldung (inzwischen nur noch gut zur Hälfte in italienischer Hand) wuchs vor allem durch den darauf erhöhten Zinsendienst in nur zwölf Jahren von 114 Milliarden Euro (1980) auf 850 Milliarden Euro (1992), die sich zusammensetzten aus 140 Milliarden Neuverschuldung und 596 Milliarden Zinsen. Das heißt: Schon 1992 überstiegen die gezahlten Zinsen die Kreditsumme um ein Mehrfaches!
Nach dem Aufdecken der Polit-Korruptionsaffäre »tangentopoli« wurde das »Ende der ersten Republik« erklärt, und Berlusconi kam an die Macht. Seitdem stieg die Staatsschuld kontinuierlich auf inzwischen über 2240 Milliarden Euro, das heißt auf derzeit rund 135 Prozent des BIP. Lediglich der Prodi-Regierung gelang es Ende der 90er kurzfristig durch eine ökonomische Rosskur, den Prozentsatz zu verringern, um Italien in die Euro-Zone zu bringen. Die Zinslast bildet seitdem den drittstärkten Ausgabenposten des Staates nach Renten- und Gesundheitssystem, verschlingt inzwischen mehr als 80 Milliarden Euro pro Jahr, die der Staat vor allem auf die lokale Ebene abschiebt, was Regionen und Gemeinden an den Rand des Abgrunds und weiter in die Korruption getrieben hat. Das erklärt unter anderem die Abwendung der Wähler von Matteo Renzis Partito Democratico (PD), die bisher die meisten lokalen Administrationen stellte. Nun soll/will die stimmenstarke Grillo-Bewegung (M5S) sogar in Metropolen wie Rom und Turin mit zwei jungen Bürgermeisterinnen versuchen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, Mut kann man den beiden nicht absprechen.
Sollte 2017 noch der inzwischen in der Verfassung verankerte »Fiskalpakt« greifen, so stünden Italien weitere rund 50 Milliarden Euro an Strafgeldern ins Haus, die Last von dann über 130 Milliarden Euro würde das noch bestehende soziale Gefüge sprengen (in dem 80 Prozent der Einkommensteuer die Arbeitnehmer und Rentner erbringen; die Steuerhinterziehung auf mehr als 150 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt wird und das Gros der Privatvermögen von circa 10.000 Milliarden Euro bei einer Minderheit konzentriert ist. Fast fünf Millionen Italiener gelten nach jüngsten ISTAT-Zahlen als absolut arm, die Wirtschaft stagniert seit langem, und es gibt noch immer keine allgemeine Arbeitslosenversicherung). Das politische Gefüge ist längst unterminiert, die sozial Schwachen haben keine parteipolitischen Vertreter mehr.
Allein an diesem Beispiel werden die Forderungen der neuen »Charta von Genua« nach Prüfung der Legitimität der bestehenden Schuldensituationen »von unten« verständlich, wie sie in Italien bereits als »Audits« auf lokaler Ebene bestehen und zum Beispiel im Falle der Stadt Parma schon zu gerichtlichen Verfahren gegen unlautere Schuldenaufnahme durch kommunale Institutionen geführt haben. Auf einer internationalen Konferenz in Venedig im Juni wies die linke Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, darauf hin, dass die Übernahme einer Stadtregierung nach einer Wahl nicht immer auch identisch ist mit der Übernahme der Macht. Da sind die Bürger, die sozialen Bewegungen, gefordert, ihre Belange »von unten« vorzubringen, an ihrer Durchsetzung mitzuarbeiten, sie zu erkämpfen. Es gilt, überall noch bestehende demokratische Freiräume aktiv zu nutzen, aber auch zivilen Ungehorsam zu üben, überall dort, wo die Situationen unerträglich werden und die geforderte Einhaltung des Stabilitätspaktes mit den Prinzipien der UNO-Charta kollidiert. Diese fordert nämlich in Artikel 103 als erste Pflicht der Staaten, ihrer Bevölkerung die Bedingungen für sozialen Zusammenhalt und Fortschritt zu garantieren, als Grundbedingung für den Erhalt des Friedens.
Die Deutschen müssten sich von den Forderungen eines Schuldenerlasses für bedrängte Staaten besonders angesprochen fühlen. Denn wäre ein solcher ihnen (das heißt der BRD hinsichtlich der Auslandsschulden nach dem Ersten Weltkrieg/Versailles und einem Großteil der Reparationsforderungen nach dem Zweiten Weltkrieg) 1953 in London von den Westmächten nicht gewährt worden (mit antikommunistischer/antisowjetischer Stoßrichtung), so hätten sie nicht diesen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg in Europa leisten können, dessen Folgen sich nun auf den Rest Europas vielfach verheerend auswirken.