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Titel1716

Wunschkinder (1)  (Urte Sperling)

Unsere netten Nachbarinnen laden zur Hochzeit. Es zeigt sich: Sie sind keine Schwestern, wie vermutet, sondern ein »gleichgeschlechtliches« Paar in den 30ern. Und einige Monate nach der Hochzeitsfeier ist eine der beiden häufig im Krankenhaus. Wochen später sieht man ihr an, dass sie schwanger ist. Auf die Frage nach dem Befinden – sie erscheint angestrengt – sagt sie, es gehe inzwischen besser. Und schließlich erfahren wir, dass wir nun Wand an Wand mit Drillingen leben. Gerechnet hatten die beiden glücklichen Mütter mit einem Zwillingspärchen. Überraschenderweise hatte aber das dritte und schwächste Neugeborene ebenfalls überlebt. Es brauchte nach der Kaiserschnitt-Frühgeburt am längsten, um sich auf der »Frühchen«-Station der Kinderklinik an das Leben außerhalb des Mutterleibes zu gewöhnen. Doch im Laufe des ersten Lebensjahres gedieh das Trio, bemuttert von Mami und Mama, einem Netzwerk aus Freunden, bezahlten Betreuer_innen und Großeltern. Bald sahen wir sie behelmt und mit ihren Laufrädchen allmorgendlich zur Kita radeln. Mami und Mama erwiesen sich als bedachte, meist geduldige Bezugspersonen und meisterten die anstrengende Aufgabe mit bewundernswerter Gelassenheit. Als die Familie dann auszog, um in der Nähe der Großeltern ein Haus mit Garten zu beziehen, waren wir ein wenig traurig. Gern hätten wir die netten Nachbarinnen behalten. Dass die zu vermutende, für unsere Generation noch außergewöhnliche »assistierte«, von reproduktionsmedizinischen Techniken ermöglichte Art der Entstehung dieser Kinder etwas Befremdliches haben könnte, kam uns im alltäglichen Umgang nicht in den Sinn.

 

Noch während der 1990er Jahren war diese Art des Kindermachens – damals noch im Experimentierstadium – Gegenstand öffentlicher Kritik sowohl von Konservativen als auch von einer Reihe Feministinnen. Die sich abzeichnende Entwicklung zum »Wunschkind« auf Bestellung erschien vielen Frauen der zweiten Frauenbewegung als Endpunkt einer Entwicklung, die in einer Jahrtausende alten Tradition der Verfügung und Unterwerfung des weiblichen Gebärvermögens unter fremdbestimmte »Fortpflanzungs«-Interessen stand. Kontrolle über die weibliche »Fruchtbarkeit« war in der Geschichte der westlichen Zivilisation ein Tribut an das Bedürfnis nach gesicherter Vaterschaft und nach »Stammhaltern« und Erben für die eigene Sippe. Später kam die Unterwerfung unter den »Willen zum Wissen« (Foucault) der Naturforscher und Ärzte hinzu. Sie wollten die Geheimnisse um Zeugung, Schwangerschaft und Geburt enthüllen – lange die Domäne von Hebammen und erfahrenen »weisen« Frauen. Die Wissbegierde der aufkommenden Naturwissenschaft zielte auf die Kontrolle über alle Naturprozesse. Kritik an den Reproduktionstechniken reihte sich ein in die Skepsis gegenüber einem »Machbarkeitswahn« und Tendenzen der Medikalisierung gesellschaftlicher Phänomene.

 

In diesem Zusammenhang fragte sich auch manche Frau, was Männer dazu treibt, Gynäkologe zu werden. Aus der kritischen medizingeschichtlichen Forschung ist bekannt, auf welche die Frauen benutzende Art und Weise Ärzte ihren Forschungsdrang umsetzten und wie viele Frauen vor allem der Unterschichten bei den Experimenten in den Gebärhäusern des 18. und 19. Jahrhunderts ums Leben gekommen sind. Nicht zu vergessen die Ziele der Eugeniker und die bevölkerungspolitischen und militärisch motivierten staatlichen Programme des späten 19. und 20. Jahrhunderts zur Kontrolle des »Volkskörpers«, seiner Gene und die damit verbundenen obskuren, als Wissenschaft ausgegebenen Hypothesen der »Erb- und Genforschung« mit ihren rassistischen Züchtungs- und Ausmerzphantasien und grausigen Praktiken von der Zwangssterilisierung bis zur Tötung von Menschen, die nicht der Norm entsprachen.

 

Gerade erst hatten die Frauen in der 1968er-Bewegung sich mittels hormoneller Verhütung vom Gebärzwang befreit, da präsentierte unter anderen auch der Erfinder der »Pille« ein Angebot, das nunmehr den »Unfruchtbaren« »Heilung« versprach. Das erste »Retortenbaby«, durch In-Vitro-Fertilisation gezeugt, war inzwischen erwachsen. Niemand sprach mehr von »Retortenbabies«. Sie hießen nun »Wunschkinder«. Der unerfüllte Kinderwunsch – bis dato ein hinnehmbares Schicksal – mutierte in den 1990er Jahren zu einer behandelbaren Krankheit, was Kritikerinnen als ein weiteres Beispiel für Medikalisierung betrachteten. Ein neuer Zweig der Medizin schuf ein Angebot, das einen entsprechenden Bedarf nach einer Therapie erzeugte für etwas, das zuvor als Schicksal, nicht aber als Krankheit galt. Die parallel entwickelten Angebote zur Pränataldiagnostik als eine Art vorgeburtlicher »Qualitätskontrolle« und Schutz vor seltenen Erbkrankheiten verwiesen auf die eugenische Kontinuität der Verfahren, weshalb Frauen aus der Behinderten-Bewegung das Recht auf Abtreibung aus solchen Gründen strikt ablehnen.

 

Andere Frauen stellten die Frage, ob es nicht unmoralisch sei, in eine Welt wie die bestehende um jeden Preis neue Menschen hineinzusetzen, solange Millionen von Kindern ohne ausreichende Nahrung sind, von ihren Müttern oder Eltern als Arbeitskräfte oder zum Zwecke der Versorgung im Alter oder anderen materiellen Erwägungen in die Welt gesetzt werden. Wer sich um Kindeswohl kümmern wollte, konnte doch SOS-Kinderdörfer oder das Weltkinderhilfswerk unterstützen oder Pfleg- und Patenschaften übernehmen oder Kinder adoptieren?

 

Mittlerweile ist die »assistierte Zeugung« zu einer fast schon alltäglichen Option geworden, unterwerfen sich Frauen freiwillig den Strapazen der hormonellen Stimulierung, sichern sich ein beachtliches Zubrot als Eizellspenderinnen oder Leihmütter. Es hat sich eine Industrie entwickelt, die nach standardisierten Verfahren ihre Dienste anbietet und ihre Kundschaft findet.

 

Wir haben es also mit zwei Realitäten und ihnen entsprechenden Sichtweisen zu tun:

Einmal mit den Interessen einer neuen Industrie und einer Wissenschaftstradition. Menschen verfügen hier so unverfroren wie in anderen Bereichen der Gesellschaft über Menschen, wobei da und dort privates Glück ermöglicht wird, ohne dass das große Unglück, das ringsum weiterbesteht, angetastet wird.

 

Zum anderen mit der Legitimität dieses Glücksanspruchs (und seiner Erfüllung), der nahelegt, dass es für Einzelne da und dort eben doch ein wahres Leben im falschen geben könne.

 

Darüber wäre wohl noch weiter nachzudenken.