Einige Monate bevor im September 1867 der erste Band des »Kapitals« von Karl Marx (1818–1883) im Verlagshaus von Otto Meissner in Hamburg erschien, ließ ihn Friedrich Engels (1820–1895) wissen: »Es ist mir immer so gewesen, als wenn dies verdammte Buch, an dem Du so lange getragen hast, der Grundkern von allem Deinem Pech war und Du nie herauskommen würdest und könntest, solange dies nicht abgeschüttelt. Dies ewig unfertige Ding drückte Dich körperlich, geistig und finanziell zu Boden, und ich kann sehr gut begreifen, daß Du jetzt, nach Abschüttelung dieses Alps, Dir wie ein ganzer andrer Kerl vorkommst, besonders da die Welt, sobald Du nur erst wieder einmal hineinkommst, auch nicht so trübselig aussieht wie vorher.« (27.4.1867; alle Briefzitate aus MEW in der dortigen Schreibweise)
Karl Marx alias Mohr wiederum entgegnete Friedrich Engels alias Fred postwendend: »Ich hoffe und glaube zuversichtlich, nach Jahresfrist soweit ein gemachter Mann zu sein, daß ich von Grund aus meine ökonomischen Verhältnisse reformieren und endlich wieder auf eignen Füßen stehen kann. Ohne Dich hätte ich das Werk nie zu Ende bringen können, und ich versichre Dir, es hat mir immer wie ein Alp auf dem Gewissen gelastet, daß Du Deine famose Kraft hauptsächlich meinetwenig kommerziell vergeuden und verrosten ließest und, into the bargain [obendrein,] noch alle meine petites misères [Miseren] mitdurchleben mußtest.« (7.5.1867)
In der Tat. Ohne Engels hätte Marx 1867 weder den ersten Band des Kapitals »zu Ende« gebracht, noch wären nach seinem Tod zwei weitere – von Engels unter großen Mühen druckfertig gemachte – Bände erschienen. (Ursprünglich hatte Marx die Ausgabe von sechs Teilen geplant.) Die Rolle, die Friedrich Engels in Marxens Leben und Schaffen spielte, ist damit aber nur ansatzweise beschrieben und gewürdigt. Grundsätzlich, und das ist hinlänglich bekannt, hat Engels seinen Freund und dessen Frau und Kinder während des vierzigjährigen Zusammenwirkens durchgehend finanziell erheblich unterstützt und zusätzlich – ohne Erfolg – immer wieder entschuldet. Ohne Engels’ Geldsendungen aus Manchester hätte Marx ab dem Juni 1850 gewiss nicht den Stammplatz Nr. 07 im Lesesaal des British Museum beziehen können, um sein Opus magnum niederzuschreiben. Ohne Engels‘ großes kommerzielles Wissen, seine praktische Kenntnis von der Funktionsweise des Kapitalismus, wären die Studien für Marx zumal schwieriger gewesen: »Ich bin jetzt in meiner ökonomischen Arbeit an einem Punkt, wo ich einigen praktischen Aufschluss von Dir wünschte, da nichts darüber in den theoretischen Schriften zu finden«, bat Marx kaum zufällig seinen Fred. »Nämlich über den Umlauf des Kapitals – seine Verschiedenheit in den verschiedenen Geschäften; Wirken desselben auf Profit und Preise. Wenn Du mir darüber einiges wenige mitteilen willst, so very willkommen.« (Januar 1858) Engels, der durch seine aufreibende Arbeit bei Ermen & Engels in Manchester dazu beitrug, sowohl die finanziellen Grundlagen für das Überleben der Familie Marx als auch die empirische Basis für »Das Kapitel« zu schaffen, beantwortete in den 1850/60er Jahren allwöchentlich unzählige Fragen von Mohr, wie der überlieferte Briefwechsel belegt. Etwa diese: »Kannst Du mir z. B. von eurer Fabrik alle Sorten Arbeiter [...] schreiben, die darin beschäftigt sind und in welcher Proportion zueinander?« (März 1862) Auch Mohrs philosophische Fragen beantwortete Fred nicht minder geistig elastisch. So wies er 1867 auf eine ökonomische Fehlstelle in Marxens Theorie hin; konkret auf den in ihr fehlenden, von Maschinen produzierten Mehrwert (26.6.1867).
In einem Brief an Johann Philipp Becker charakterisierte Engels seine Funktion im Tandem mit Marx so: »Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite Violine spielen, und glaube auch, meine Sache ganz passabel gemacht zu haben. Und ich war froh, so eine famose erste Violine zu haben wie Marx.« (15.10.1884) Engels betrachtete Marx seit dem Beginn ihrer engen Zusammenarbeit im Jahre 1844 als »Genie«; und da sich ihre Charaktere gegenseitig perfekt ergänzten, tat er alles Erdenkliche, um das Genie seines Freundes nach Kräften anzufachen. Eine »famose erste Violine« wurde Karl Marx im Übrigen schon deshalb, weil Friedrich Engels ihn genau zu den ökonomischen Studien antrieb, ohne die das Fragment gebliebene Werk »Das Kapital« nicht hätte entstehen können. Ein Blick zurück:
Nach einer flüchtigen Begegnung der beiden in der Redaktion der Rheinischen Zeitung im Oktober 1842 schickte Friedrich Engels seine im Januar 1844 niedergeschriebenen »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« an Ruges und Marxens »Deutsch-Französische Jahrbücher«, die ihre Wirkung nicht verfehlten. »Noch nach Jahrzehnten«, überliefert Engels‘ Biograph Gustav Meyer, »hat sich Marx beim Wiederlesen der ›Umrisse‹ über ›diese geniale Skizze‹ bewundernd geäußert.« Darin heißt es unter anderem:
»Die Konkurrenz setzt also Kapital gegen Kapital, Arbeit gegen Arbeit, Grundbesitz gegen Grundbesitz, und ebenso jedes dieser Elemente gegen die beiden andern. Im Kampf siegt der Stärkere, und wir werden, um das Resultat dieses Kampfes vorauszusagen, die Stärke der Kämpfenden zu untersuchen haben. Zuerst sind Grundbesitz und Kapital jedes stärker als die Arbeit, denn der Arbeiter muß arbeiten, um zu leben, während der Grundbesitzer von seinen Renten und der Kapitalist von seinen Zinsen, im Nothfalle von seinem Kapital oder dem kapitalisirten Grundbesitz leben kann. Die Folge davon ist, daß der Arbeit nur das Allernothdürftigste, die nackten Subsistenzmittel zufallen, während der größte Theil der Produkte sich zwischen dem Kapital und dem Grundbesitz vertheilt. Der stärkere Arbeiter treibt ferner den schwächeren, das größere Kapital das geringere, der größere Grundbesitz den kleinen aus dem Markt. Die Praxis bestätigt diesen Schluß. Die Vortheile, die der größere Fabrikant und Kaufmann über den kleinen, der große Grundbesitzer über den Besitzer eines einzigen Morgens hat, sind bekannt. Die Folge hiervon ist, daß schon unter gewöhnlichen Verhältnissen das große Kapital und der große Grundbesitz das kleine Kapital und den kleinen Grundbesitz nach dem Recht des Stärkeren verschlingen – die Centralisation des Besitzes. […] Großer Besitz vermehrt sich überhaupt viel rascher als kleiner, weil von dem Ertrag ein viel geringerer Theil als Ausgaben des Besitzes in Abzug kommt. Diese Centralisation des Besitzes ist ein dem Privateigentum ebenso immanentes Gesetz, wie alle andern; die Mittelklassen müssen immer mehr verschwinden, bis die Welt in Millionäre und Paupers, in große Grundbesitzer und arme Taglöhner getheilt ist. Alle Gesetze, alle Theilung des Grundbesitzes, alle etwaige Zersplitterung des Kapitals hilft nichts – dies Resultat muß kommen und wird kommen, wenn nicht eine totale Umgestaltung der socialen Verhältnisse, eine Verschmelzung der entgegengesetzten Interessen, eine Aufhebung des Privateigenthums ihm zuvorkommt.« (MEGA I, Bd. 3, Berlin 1985, S. 467-494, h. S. 491)
Karl Marx, der sich bis dahin mit der modernen Religionsphilosophie, Politologie und Soziologie beschäftigt und neue sozialistische Ansätze vorangetrieben hatte, beeindruckten Engels‘ »Umrisse« und die darin aufgeführten genialen Bemerkungen zur Privatökonomie nicht nur, sie bewegten ihn vielmehr zu dem Entschluss, fortan den Großteil seines Forscherlebens der Analyse des kapitalistischen Systems zu widmen. Jedenfalls nahm Marx umgehend und ernsthaft das Studium der Schriften klassisch politischer Ökonomen wie Adam Smith, David Ricardo und anderer mehr auf und begann im April 1844 mit der Niederschrift der später sogenannten »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«. Als Engels Marx im August 1844 in Paris aufsuchte, stellte sich, wie er später schrieb, nichts weniger als »unsere vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten heraus, und von da an datiert unsere gemeinsame Arbeit«.
Das zehntägige Treffen in Paris markierte den Beginn einer Freundschaft und Zusammenarbeit von unglaublicher Intensität. Sie verlief über 40 Jahre, die geprägt waren von Engels’ Spiel auf der »famosen ersten Violine« Marx, von seinem Drängen auf die Fertigstellung des Jahrhundertwerks »Kapital«. Bereits im frühesten erhaltenen Brief vom Oktober 1844 riet Engels dem gesundheitlich oftmals schwächelnden Freund, die polit-ökonomischen »Manuskripte« umgehend zwischen zwei Buchdeckel zu bringen: »Nun sorge dafür, daß die Materialien[,] die Du gesammelt hast[,] bald in die Welt hinausgeschleudert werden. Es ist verflucht hohe Zeit.« Und im Januar 1845 legte er nach: »Mach[,] daß Du mit Deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst, wenn Du selbst auch mit Vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif[,] und wir müssen das Eisen schmieden[,] weil es warm ist.«
Bis zum Herbst 1867, als der erste Band des »Kapitals« erschien, musste Engels seine »famose erste Violine« immer wieder neu stimmen. In Gustav Meyers Engels-Biographie heißt es trefflich: »Marx und Engels hegten die höchste Meinung voneinander. Keines anderen Kritik hatte bei ihren Arbeiten für sie den gleichen Wert wie ihre wechselseitige. Dabei betrachteten sie ihr Lebenswerk als eine Einheit, innerhalb deren es Arbeitsteilung gab, nicht aber Privateigentum. Der literarische Erfolg eines jeden war ihnen ebenso Gemeinbesitz wie die Eroberungen, die ihre Gedanken, die sich nicht trennen ließen, auf politischem Boden machten. […] Vergebens schaut man sich in der ganzen Geschichte um: man findet kein zweites Beispiel für eine so vollständige Symbiose zweier bedeutender geistiger Persönlichkeiten.«
Johann-Günther König: »Friedrich Engels. Die Bremer Jahre 1838–1841«, Kellner Verlag, 608 Seiten, 24,90 €