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Titel1717

Wir Wunsch-Marxisten  (Harald Kretzschmar)

Je weniger nach seinen Erkenntnissen gehandelt wird oder irgendetwas von seinen Ideen realisiert wird, desto mehr wird über ihn geredet. So viele überschwänglich jubelnde Marxverehrer und so viele tiefschürfend neunmalkluge Marxkenner hat es lange nicht gegeben. Nachdem die sich auf ihn berufende Weltrevolution grandios schiefgegangen ist und wir schnurstracks in die von ihm prophezeiten Irrtümer hineinstolpern, dürfen wir ihn ohne Bedenken, dass es nachteilige Folgen für uns haben könnte, verehren und lobpreisen – inniglich.

 

Nun geht von früheren Zeiten eine Legende. Der ununterbrochen unsere Staatsfeindlichkeit argwöhnende Geheimdienst habe uns unheimlich dienstlich die Marx leugnenden oder gar verachtenden Philosophen missgönnt und die Beschäftigung mit ihnen verhindert. Wer nicht für Marx war, habe sich einer verwerflichen Gegnerschaft schuldig gemacht und erhebliche Nachteile in Kauf nehmen müssen. Von Strafexerzieren mit Sturmgepäck, das von »Kapital«-Bänden beschwert war, wird da gemunkelt sowie vom als »Selbststudium« bezeichneten nächtlichen Nachsitzen mit hundertmal Abschreiben des Satzes: »Karl Marx‘ Lehre ist allmächtig, weil sie wahr ist.«

 

Das ist höchstens noch in Nordkorea Usus. Solch amtlich verordnete Lenkung unserer Gedankengänge durften wir überwinden und ein für alle Mal hinter uns lassen. Heute leiten uns Denkrichtungen verschiedenster Couleur. Wir müssen keinerlei Hemmungen haben, nationalrevisionistische oder quasiterroristische Gedankenschulen zur Kenntnis zu nehmen, die rassistisch orientierte faschisierende Verfolgertypen ins Leben riefen. Alles müssen wir kennen und begreifen. Und wer danach handelt und dadurch mit irgendwelchen gültigen Gesetzen in Konflikt gerät, den verfolgen wir mit gnadenloser Härte quer durch verwirrende Föderalstrukturen womöglich erst nach Jahrzehnten, dennoch erfolglos. Das lassen wir uns durch keinerlei parlamentarische Kontrolle nehmen.

 

Da ist es doch schön, unseren geliebten Karl Marx mit seiner erhabenen Würdegestalt immer mal mit ganzer Empathie zu knuddeln und ein laut schallendes »Hoch soll er leben!« auf sein Andenken auszubringen. Täglich sehen wir all das, was er womöglich dem Kapitalismus seiner Zeit erst noch andichten musste, im Kapitalismus unserer Zeit bitterschwere Realität werden. Uns genügt nicht mehr, vom Profitinteresse der Reichen kujoniert zu werden – wenn sie nicht superreich werden können, sind wir nicht zufrieden. Den übermächtigen multinationalen Konzernen liefern wir bereitwillig unser Lebensglück aus. Wir notorischen Billigeinkäufer lassen uns wahnsinnig überteuerte Technologien aufschwatzen, die uns zu willig verfügbaren, ja manipulierbaren Computersklaven machen.

 

Welch Glücksgefühl kehrt dann in unsere Seele ein, wenn von weither Leit- und Lehrsätze jener einst als »Klassiker« Verehrten, der Herren Marx und Engels, herüberwehen. So etwas wie Musik, philosophisch fundiert und nach den Gesetzen der Logik komponiert, raunt wie von fernen Gestaden her in unseren Gehörgängen. Daraufhin nehmen wir die für die anstehenden Bundestagswahlen zulässig verbindlich verallgemeinert gehaltenen Programme der verschiedenen Parteien her, und denken: Holla, da schimmert doch tatsächlich so etwas Ähnliches wie das von diesen Klassikern Formulierte durch. Selbst die satte Mehrheit im Bundestag, die uns gerade erst im letzten Moment der Legislaturperiode die Privatisierung von Autobahnen und Schulen übergeholfen hat, scheut ein halbherziges Bekenntnis zum Sozialstaat Marx‘scher Prägung nicht.

 

Manchmal hat man den Eindruck, wir Wunsch-Marxisten wären inzwischen so zahlreich vorhanden, dass man gar von einer Lobby sprechen könnte. Einer Lobby, die aus dem Bestseller »Das Kapital« selbst als Comic noch Kapital zieht. Einer äußerst betriebsamen Lobby, die Marx sagt und etwas ganz anderes meint, wohlgemerkt. »Die Reichen werden immer reicher«, ein Satz so billig wie willig verbreitbar, wird ununterbrochen kolportiert. In einer leider vergangenen Zeit, als noch anmutige Verse zu sangbaren Liedern verarbeitet wurden, hätte das als Refrain für einen Ohrwurm getaugt. Abzusingen zum widerstandslosen Hinnehmen einer Kapital-Expansion bisher ungekannten Ausmaßes. Der deutsche Wunsch-Marxist weiß darum, wie schnell man in diesem Land in den Geruch der Rechtslastigkeit kommen kann. Insofern ist er in der marxistischen Ecke nur den ohnehin fragwürdigen Typen von Pegida und AfD suspekt. Etwas Besseres kann ihm gar nicht passieren. Marx verpflichtet heute zu gar nix, und die anderen sind sowieso immer die Bösen.