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Titel1717

Marx is‘ muss  (Tomasz Konicz)

Wenn ihm der Tag lang wurde, konnte auch ein Karl Marx viel Unsinn von sich geben. Die Marx‘sche Teleologie, wonach der Sozialismus/Kommunismus den Kapitalismus mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes quasi natürlich beerben würde, wirkt angesichts der jüngsten Geschichte – wie auch der aktuellen, ins Barbarische tendierenden Krisenentwicklung – eigentlich nur noch peinlich. Und es lässt sich mit Fug und Recht fragen, wann sich das werte Proletariat endlich dazu bequemen wird, seiner historischen Mission als revolutionäres Subjekt nachzukommen, die ihm Marx und Engels zugewiesen haben. Die gegenwärtige krisenhafte Entwicklungstendenz kulminiert ja eher im Aufkommen einer ökonomisch überflüssigen Menschheit – siehe Flüchtlingskrise.

 

Und dennoch: Marx is‘ muss. Ohne die Mar‘xsche Theorie ist die gegenwärtige spätkapitalistische Welt schlicht nicht zu begreifen. All die disparat erscheinenden Verwerfungen, all die verwirrenden Krisentendenzen, all das um sich greifende Chaos (Massenelend, Kriegsgefahr, Neue Rechte, Klimachaos, was auch immer) – sie lassen sich dank des klassischen Kerns Marx‘scher Theoriebildung auf einen theoretischen Nenner bringen. Die große theoretische Erzählung, deren bloße Möglichkeit in der Postmoderne mit ihrer »neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas) rundweg geleugnet wurde, sie kann eine Marx‘sche Theorie auf der Höhe des 21. Jahrhunderts immer noch leisten. Und es ist keine schöne Story – aber dafür ist es eine wahre Story.

 

Hierfür muss Marx als Theoretiker begriffen werden. Die Überwindung des Marxismus als anachronistische orthodoxe Ideologie, in der der Wortlauf der »heiligen« Marx‘schen Schriften buchstabengetreu wiedergegeben und als der Weisheit letzter Schluss verkauft wird, bildet somit eine Grundvoraussetzung der Marx‘schen Renaissance im 21. Jahrhundert. Das Marx‘sche Gedankengebäude muss somit zuallererst als widersprüchlich zur Kenntnis genommen werden. Marx war einerseits ein Kind seiner Zeit, das der damals noch stark anwachsenden Arbeiterklasse eine historische Mission zuwies und den allgemeinen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts mit einem kommunistischen Überbau versah. Andererseits war er der Klassiker und Visionär, der die grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung kritisierte und die ihnen innewohnenden, entscheidenden Widersprüche offenlegte.

 

Es gilt somit, den klassischen, theoretischen Kern der Marx‘schen Theorie von der anachronistischen Schlacke zu befreiten, die sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hat. Den Kern des widerspruchsvollen Marx‘schen Theorie- und Gedankengebäudes bildet seine Analyse des kapitalistischen Systems. Präziser: die Analyse der »Bewegungsgesetze« des Kapitals, somit die Marx‘sche Wertformanalyse, wie sie etwa in seinem Hauptwerk »Das Kapital« geleistet wurde. Die Bestimmung der abstrakten Lohnarbeit als der Substanz des Werts, als des Inhalts der Wertform, sowie der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit als der eigentlichen Wertgröße einer Ware, machten Marx zum Klassiker. Dieser Kern seiner Kapitalanalyse bleibt gültig, solange der Gegenstand seiner Analyse besteht – das Kapital.

 

Mehr noch: Marx benannte auch den entscheidenden Widerspruch zwischen dem realabstrakten Wert und dem konkreten Gebrauchswert einer Ware (eigentlich schon im berühmten, visionären »Maschinenfragment« in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie), der der gegenwärtigen chaotischen Periode spätkapitalistischer Krisenentfaltung zugrunde liegt. Da der Gebrauchswert nur als Träger abstrakten und selbstzweckhaften Werts von Belang ist, tendiert das instabile System zur permanenten Expansion – und perspektivisch zur Selbstzerstörung. Die Verfeuerung der realen Welt zwecks uferlosen Wachstums abstrakten Werts, der Akkumulation immer größere Mengen abstrakter Arbeit, sie resultiert aus diesem inneren Widerspruch des Kapitals selber.

 

Der Marx‘sche Fetischismusbegriff – der gerade keine »Illusion«, sondern einen sehr realen gesellschaftlichen Vorgang beschreibt – ermöglicht es zudem zu begreifen, wieso der spätkapitalistische Mensch dieser verselbständigten Verwertungsdynamik des Kapitals und ihren verheerenden Folgen ohnmächtig gegenüberzustehen scheint, sie als eine Art Naturphänomen wahrnimmt, obwohl er sie unbewusst alltäglich buchstäblich erarbeitet. Wie gesagt, es ist keine schöne Story, die eine Marx‘sche Theorie auf der Höhe des 21. Jahrhunderts liefern würde. Und dies ist wohl einer der Gründe, wieso sich diesem Vorhaben so viele Widerstände in den Weg stellen. Doch es ist notwendig, die »Wüste des Realen« (Matrix) zu durchschreiten, falls doch noch, aller Evidenz zum Trotz, Wege aus dieser Wüste gefunden werden sollten.

 

Zudem stellt eine ernsthafte Marx-Lektüre das beste Gegengift gegen populistische Verkürzungen, eine platte »Bonzenkritik« und Sündenbocksuche dar. Der Marx‘sche Begriff der ökonomischen Charaktermaske macht klar, dass auch die mächtigsten Kapitalisten ihre scheinbare Macht nur aus der subjektiven Optimierung des objektiven systemischen Zwanges zur Kapitalverwertung schöpfen. Marx befördert ein systemisches Denken, dass derzeit in einer mit populistischen Verkürzungen kontaminierten Linken dringend notwendig wäre. Marx hat erkannt, dass es nicht um bloße sozialdemokratische »Umverteilung« gehen kann, sondern dass das System als solches auf den Müllhaufen der Geschichte gehört – das Kapitalverhältnis also in seiner gesamtgesellschaftlichen fetischistischen Eigendynamik überwunden werden muss. Letztendlich muss der kapitalistische Fetischismus aufgebrochen werden, müssen die Menschen tatsächlich zu einer bewussten Gestaltung ihres gesellschaftlichen Reduktionsprozesses übergehen, der derzeit unbewusst kapitalgetrieben »hinter dem Rücken« (Marx) der Marktsubjekte vonstattengeht. Dies wäre ein revolutionärer Ausgang aus der fetischistischen »Vorgeschichte der Menschheit«, wie es Marx nannte.

 

Das Gedankengebäude des Karl Marx muss somit letztendlich ernst genommen werden. Es sollte als ein theoretisches Werkzeug begriffen werden, das dazu dient, die Welt zu begreifen. Hierzu müsste die anachronische Hülle abgestreift und der relevante Kern der Marx‘schen Theorie gehoben werden. Die Marx‘sche Theorieschule der Wertkritik, wie sie maßgeblich vom Philosophen Robert Kurz geformt wurde, ist bislang am weitesten diesen Weg gegangen. Und klar: Dies ist kein einfacher Weg, wie die bloße Reproduktion orthodoxer Ideologie oder die Zurichtung des Marxismus zu einer pseudolinken Identität, einem identitären Mode-Utensil für Hipster, wie es durch eine hippe Identitätslinke derzeit praktiziert wird.

 

Tomasz Konicz ist freier Journalist und Publizist. Zuletzt publizierte er im Konkret Verlag das Buch »Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft«, siehe dazu Ossietzky 21/2016.