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Titel1717

Entfremdung im digitalen Kapitalismus  (Christian Fuchs)

Die Entfremdung der Arbeiterschaft

Arbeit hat nach Marx im Kapitalismus zwei Charakteristika: Sie wird von dem Kapitalisten kontrolliert, der Arbeitgeber und daher Überwacher der Arbeitenden ist. Und das Produkt der Arbeit gehört nicht den Arbeitenden, sondern den Kapitalisten (vgl. »Das Kapital«, Abschnitt 5.1, Band 1).

 

Marx spricht davon, dass die Arbeiterschaft von den Produktionsmitteln und den Produkten der Arbeit entfremdet ist. Die Arbeitenden sind gezwungen, sich von den Kapitalisten ausbeuten zu lassen, um überleben zu können. Dies bedeutet, dass sie ihr Leben nicht vollständig kontrollieren können und mit entfremdeten Mächten konfrontiert sind, die Zwang auf sie ausüben, etwas zu machen, nämlich für Kapitalisten zu arbeiten, was sie möglicherweise nicht freiwillig tun würden. In Kapitel 24 ist für Marx die Gewalt des Marktes und des Kapitalismus »der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse”, der »die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter” besiegelt. »Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise.«

 

Marx benutzte den Begriff der Entfremdung bereits im Jahr 1844 im Abschnitt »Die entfremdete Arbeit« der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«. Darin identifiziert er vier Formen der Entfremdung: die Entfremdung vom Produkt, die Entfremdung vom Arbeitsprozess in der Form der Zwangsarbeit, die Entfremdung des Menschen von sich selbst und die Entfremdung von anderen Menschen und der Gesellschaft.

 

Auf der einen Seite ist die Darstellung der Entfremdung in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« nicht so systematisch wie im »Kapital«. Auf der anderen Seite ist die Analyse in Marx’ Frühschriften mehr auf die anthropologischen Konsequenzen der Entfremdung für das menschliche Wesen konzentriert.

 

In Kapitel 21 (»Einfache Reproduktion«, »Das Kapital« Bd. 1) findet sich eine weitere Passage, die die Wichtigkeit der Kategorie der Entfremdung, verstanden als Nichteigentum und Enteignung, verdeutlicht:

Einerseits verwandelt der Produktionsprozess fortwährend den stofflichen Reichtum in Kapital, in Verwertungs- und Genussmittel für den Kapitalisten. Andrerseits kommt der Arbeiter beständig aus dem Prozess heraus, wie er in ihn eintrat – persönliche Quelle des Reichtums, aber entblößt von allen Mitteln, diesen Reichtum für sich zu verwirklichen. Da vor seinem Eintritt in den Prozess seine eigne Arbeit ihm selbst entfremdet, dem Kapitalisten angeeignet und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich während des Prozesses beständig in fremdem Produkt. Da der Produktionsprozess zugleich der Konsumtionsprozess der Arbeitskraft durch den Kapitalisten ist, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die den Produzenten anwenden. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter. Diese beständige Reproduktion oder Verewigung des Arbeiters ist das sine qua non, ›die unerlässliche Bedingung‹ der kapitalistischen Produktion.

 

Marx argumentiert hier, dass die Arbeitskraft im Kapitalismus entfremdet ist, da die Arbeitenden sie als eine Ware verkaufen müssen, um überleben zu können, sie als Ergebnis des Kapitalismus die Produkte ihrer Arbeit nicht besitzen und dem Kapital in einem Klassenverhältnis gegenüberstehen, in dem sie von einer beherrschenden und fremden Macht ausgebeutet werden.

 

 

Entfremdung und Werbung

Lohnarbeitende in Firmen, die zu Bereichen der Kulturindustrie gehören, wie zum Beispiel dem Verlagswesen, Plattenlabels, Filmproduktionsfirmen, Software- und Webunternehmen oder Computerhardwareproduzenten, erfahren alle Formen der Entfremdung.

 

Die Situation ist etwas unterschiedlich bei werbefinanzierten Medien, bei denen nicht nur die Lohnarbeitenden, sondern auch das Publikum wertschaffende Arbeitende sind. Das Publikum schöpft durch Sehen, Hören oder Lesen Wert, also dadurch, dass es Inhalten Aufmerksamkeit schenkt, was den kommerziellen Medien, die Möglichkeit bietet, die Publikumsaufmerksamkeit an Werbetreibende zu verkaufen. Das Publikum werbefinanzierter Medien ist entfremdet, da es diese nicht besitzt. Es kontrolliert weder die Produktionsmittel noch das durch den Verkauf der Publikumsware generierte Kapital. Die Menschen haben das Bedürfnis, darüber informiert zu werden, was in der Gesellschaft passiert. In der modernen Gesellschaft sind Medien wichtige Informationsquellen. Niemand wird dazu gezwungen, eine bestimmte Zeitung, wie The Sun, Bild oder die Kronen Zeitung, zu lesen. Man kann stattdessen Nachrichten auch über einen linken Politikblog beziehen und die Boulevardmedien ignorieren. Der Medienkonsument ist aber kein unabhängiger Konsument, da Märkte eine Konzentrationstendenz haben und dementsprechend bestimmte Medien den Markt dominieren, so dass mehr Menschen The Sun und ähnliche Boulevardmedien lesen und kaufen, als linke News-sites wie Alternet.org zu entdecken und regelmäßig zu besuchen.

 

Marktkonzentration und die Marktmacht großer Medienkonzerne entfremden also das Publikum als menschliche Subjekte, indem alternative Informationsquellen marginalisiert werden und ihnen die Wahrscheinlichkeit großer Aufmerksamkeit entzogen wird. Vor allem Boulevardmedien haben eine Tendenz, Nachrichten in einer voreingenommenen, eindimensionalen und simplifizierenden Form zu präsentieren, die die Komplexität der Welt verzerrt und versucht, das Publikum ideologisch zu manipulieren. Die Mitglieder des Publikums werden durch ideologische und verzerrte Inhalte entfremdet: Sie sind von einem wahrhaften Bild der Realität, der Realität, wie sie wirklich ist, entfremdet. Entfremdung bedeutet dabei, dass die Medien eine fremde Welt, eine Medienwelt, die der realen Welt fremd ist, präsentieren. Dass ideologische Inhalte die Menschen entfremden, bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass sie sich manipulieren lassen. Sie können klug genug sein, Ideologien zu durchschauen und sie zu dekonstruieren. Entscheidend ist hingegen der objektive Versuch von Medien, Ideologie und verzerrte Inhalte zu verbreiten.

 

 

Entfremdung und soziale Medien

Es stellt sich die Frage, wie Entfremdung auf kapitalistischen Internetplattformen wie YouTube und Facebook aussieht, auf denen die NutzerInnen selbst Inhalte schaffen und miteinander teilen können. Die UserInnen besitzen nicht die Internetplattformen und die monetären Profite der Internetkonzerne. Sie sind vom Eigentum an den Gegenständen und Produkten entfremdet. Sie werden nicht vom Markt oder physischer Gewalt dazu angehalten, diese Plattformen zu nutzen, sondern von der Monopolmacht der Plattformen und den sozialen Nachteilen, die sie erleiden können, wenn sie kein Facebook-Profil haben und sich keine Videos auf YouTube ansehen. Ist man nicht auf Facebook, so kann es passieren, dass man von FreundInnen nicht zu einer Party eingeladen wird. Sieht man sich keine Clips auf YouTube an, so versteht man vielleicht nicht, worüber Freunde sprechen, was dazu führen kann, dass diese einen als uncool, uninformiert und als AußenseiterInnen ansehen. Man leidet dann unter sozialen Nachteilen. Der Zwang, der die Menschen entfremdet und versucht, sie zur Nutzung kapitalistischer Internetplattformen zu nötigen, hat eine soziale Operationsweise: Er gibt den NutzerInnen das Gefühl, dass ihnen soziale Möglichkeiten entgehen und sie möglicherweise als AußenseiterInnen betrachtet werden.

 

Der Sklave muss damit rechnen, getötet zu werden, wenn er die Arbeit verweigert. Der Lohnarbeiter kann die Arbeit auch nicht so leicht verweigern, da er ohne sie eventuell verhungert, obdachlos wird und so weiter. Der Leser der Sun wird durch die Marktmacht des Murdochkonzerns genötigt, da er nicht so leicht auf die Existenz alternativer Informationsquellen aufmerksam wird. Die verzerrte Berichterstattung der Boulevardmedien entfremdet die LeserInnen vom Zugang zu komplexer und wahrhafter Information über die Welt. Der Facebook-Nutzer kann auch nicht so einfach die Nutzung der Plattform unterlassen, wenn viele seiner FreundInnen auf der Plattform registriert sind und sie ihn zum Außenseiter stempeln könnten. Wir haben es mit unterschiedlichen Formen der Gewalt – physischer, struktureller, ideologischer und sozialer Macht – zu tun, die die Menschen zwingen, sich vom Kapital ausbeuten zu lassen und für es zu arbeiten. Sie können der Ausbeutung nicht so leicht individuell entfliehen. Vielversprechender ist es, wenn sie sich kollektiv als vereinte Klasse organisieren, die Streiks, Proteste, Kampagnen und Alternativen als Mittel des Klassenkampfes verwendet.

 

Stark gekürzter Auszug aus dem Buch »Marx lesen im Informationszeitalter. Eine medien- und kommunikationswissenschaftliche Perspektive auf ›Das Kapital‹ Band 1‹« (Unrast Verlag, 600 Seiten, 29,80 €). Mit Genehmigung des Unrast Verlages.

 

Christian Fuchs ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der University of Westminster in London, wo er der Direktor des Instituts für Höhere Studien und des Instituts für Kommunikations- und Medienforschung ist. Siehe: http://fuchs.uti.at und Twitter @fuchschristian.