Über keinen Philosophen und Nationalökonomen ist bis heute so viel geschrieben worden wie über den deutschen Karl Marx (1818–1883), der in dem Jahr starb, als der wohl größte Ökonom des 20. Jahrhunderts, der Brite Sir John Maynard Keynes, geboren wurde. Übrigens kam 1883 ein weiterer großer Ökonom, nämlich der Österreicher Joseph A. Schumpeter, zur Welt.
»Ganze elf Trauergäste versammelten sich am 17. März 1883«, schreibt der Marx-Biograph Francis Wheen, »um Marx das letzte Geleit zu geben.« Er war, wie Engels berichtete, kurz zuvor, am 14. März, »sanft in seinem Lehnstuhl eingeschlafen«. Engels prophezeite an Marx‘ Grab auf dem Londoner Friedhof Highgate zu Recht, dass dessen »Name und Werk durch die Jahrhunderte fortleben« werden.
Das Sterbedatum und die Geburtsdaten von Marx, Schumpeter und Keynes sind sicher reiner Zufall. Marx und Keynes gemeinsam ist jedoch eine regelrechte Angst der Herrschaftseliten vor ihren Theorien. Vielleicht wird Marx auch deshalb in der Wirtschaftswissenschaft geradezu totgeschwiegen. Kein angehender Ökonom muss ernsthaft im Examen damit rechnen, nach seinem Hauptwerk, »Das Kapital«, tiefgehend befragt zu werden. Und unter der heute an Hochschulen vorliegenden Dominanz des neoliberalen Mainstreams gilt dies auch weitgehend für Keynes beziehungsweise den nach ihm benannten Keynesianismus und seinen vielfältigen post-keynesianischen Varianten.
Keynes will keine nur dem Markt und sich selbst überlassene Kapitalisten, sondern einen starken in den Markt intervenierenden und kontrollierenden Staat. Marx dagegen erblickte im bürgerlichen Staat nur einen Kapitalvasallen und hielt im Kommunismus die staatliche Obrigkeit für völlig überflüssig. Hier besteht zwischen den beiden ein gewaltiger Unterschied. Es gibt aber auch durchaus Gemeinsamkeiten. Marx sah auf Basis seiner Arbeitswerttheorie [nur der arbeitende Mensch schafft in der Produktion einen Mehrwert (Gewinn, Zins und Grundrente)] den Kapitalismus immanent am tendenziellen Fall der Profitrate zu Grunde gehen. Die kapitalistische Tendenz zu immer mehr Technikeinsatz führt zu einer ständigen Substitution von Arbeit durch Kapital. »Diese erzeugt«, so schrieb Marx, »mit der fortschreitenden relativen Abnahme des variablen Kapitals gegen das konstante eine steigend höhere organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, deren unmittelbare Folge ist, dass die Rate des Mehrwerts bei gleichbleibendem und selbst bei steigendem Exploitationsgrad der Arbeit sich in einer beständig sinkenden allgemeinen Profitrate ausdrückt« (Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. 3, Berlin (Ost) 1974, S. 223). Der Verfall ist hier, nach Marx, unabhängig von einer nur unzureichenden Nachfrage zu sehen – wie Keynes sie unterstellt. Die Ursache liegt nicht in einer nur unzureichenden Realisierung des Mehrwerts am Markt, sondern sie ist produktionsseitig veranlasst.
Eine Parallele zum tendenziellen Sinken der Profitrate ergibt sich bei Keynes aber doch in der von ihm prognostizierten »abnehmenden Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals«. Gemeint ist damit die Rendite des in einem Investitionsvorhaben eingesetzten Kapitals, die sich als Erwartungsgröße aus den abgezinsten Erträgen einer Investition ergibt und deren Barwert (Gegenwartswert) gleich der Investitionssumme sein muss. Keynes begründet die abnehmende Grenzleistungsfähigkeit damit, dass bei steigenden Investitionen und einem daraus folgenden zunehmenden Güterangebot die zukünftigen Erträge konkurrenzbedingt abnehmen und gleichzeitig die Kosten des Kapitaleinsatzes bei erhöhter Investitionsnachfrage noch steigen werden. Dies stellt, so Keynes, den Kapitalismus vor immer größere Probleme.
Außerdem muss das System permanent eine schwerwiegende »einzelwirtschaftliche Rationalitätsfalle« verkraften. Demnach verhalten sich Kapitalisten betriebswirtschaftlich völlig rational, wenn sie ständig danach trachten, die Löhne zu senken und Arbeit durch Kapital zu ersetzen (siehe oben), um so ihre Profitraten zu steigern. Da dies alle machen, laufen sie gesamtwirtschaftlich jedoch in ihre »eigene Falle« beziehungsweise lösen immer wieder Überproduktionskrisen aus. Es kommt durch das Umverteilen von den Arbeits- zu den Mehrwerteinkünften am Ende schlicht zu Nachfrageausfällen. Keynes sieht hier die Krisenursache in der Realisationssphäre, auf der Nachfrageseite, während Marx sie auf der Angebots- beziehungsweise Produktionsseite verortet (vergleiche oben).
Mit Marx und dem Marxismus haben sich weltweit außerhalb des akademischen Lehrbetriebs immer wieder (überwiegend) linke Ökonomen und Sozialwissenschaftler beschäftigt. Der US-Amerikaner Paul Johannes Tillich schreibt hier zum Marxismus treffend: »Seit seiner Entstehung […] sind mindestens drei Formen des Marxismus in Erscheinung getreten. Die erste Form ist die, die im ursprünglichen und vor allen Dingen im jüngeren Marx bis zum ›Kommunistischen Manifest‹ vorliegt. Die zweite Erscheinungsform des Marxismus ist der von Marx selbst in seinen späteren Schriften entwickelte wissenschaftliche Marxismus. Die dritte Erscheinungsform ist die von Lenin vorbereitete und von Stalin durchgeführte Zerstörung der ursprünglichen Impulse von Marx und die Benutzung seiner Gedanken zur Fundierung eines Systems totalitärer Herrschaft. Wenn man daher heute von Marxismus und Marx spricht, muss man angeben, welche der drei Erscheinungsformen man meint« (Paul Johannes Tillich: »Der Mensch im Christentum und im Marxismus«, München 1952, S. 18). Dies machen selbstverständlich seine vielen populistischen und ihn diskreditierenden Kritiker nicht. Sie beschränken sich zumeist auf die von Marx nicht mehr beeinflussbar gewesene dritte Erscheinungsform des Marxismus, um ihn so bewusst schlechtzureden und berufen sich hier dann gern auf die von ihm geforderte »Diktatur des Proletariats«, womit Marx aber nicht auch nur im Geringsten eine pervertierte totalitäre Herrschaft von Oligarchen, wie sie in der Sowjetunion oder in der DDR gegeben war, gemeint hat. Im Gegenteil: Diese wäre ihm mit Sicherheit völlig zuwider gewesen.
Marx‘ wissenschaftlicher Marxismus, mit dem sich die Wenigsten auseinandergesetzt haben, weil auch am Schwierigsten, beruhte auf einer philosophischen Verbindung von Dialektik und historischem Materialismus, die nicht auf Einzelheiten der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung abhebt, sondern auf diese als Ganzes (holistisch), in allen ihren Lebensäußerungen, fixiert ist. Dies bringt Marx 1859 zum Ausdruck, wenn er schreibt: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. […] Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt« (Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. 1, Berlin (Ost) 1974, S. 8f.) Daher wirft Marx auch den Kapitalisten und Grundeigentümern im Vorwort des »Kapitals« nicht ihr individuelles Handeln vor. Sie sind »Gefangene des Systems«, und ihr gesellschaftliches Sein »produziert« ständig ihr kapitalistisches Bewusstsein.
Das größte Problem in seinen uns hinterlassenen Schriften, nicht nur im gemeinsam mit Friedrich Engels (1820 bis 1895) auf wenigen Seiten gedrängt erarbeiteten und am Vorabend der Revolution von 1848 herausgegebenen »Kommunistischen Manifest«, ist jedoch in der Tat die von Marx nicht geleistete konkrete Darlegung, wie in einer sozialistischen oder gar utopisch anmutenden kommunistischen Gesellschaft – als Alternative zum Kapitalismus –, das Allokations-, Koordinierungs- und Verteilungsproblem, die es in jeder Ökonomie gibt, gelöst werden sollen. Hinzu kommen noch, in einer sich immer nur arbeitsteilig darstellbaren Gesellschaft, komplexe Leistungs- und Interessenprobleme, die es ebenfalls auszusteuern gilt. Hier hat es sich Marx leicht gemacht oder seine Kräfte haben im Laufe seines schwierigen Lebens einfach nicht mehr ausgereicht. So wie sich die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen (Sklaverei, Feudalismus) vor dem Kapitalismus auch systemimmanent beseitigt haben, so werde sich nach Marx letztlich das kapitalistische System durch eine höhere Ordnung, die er sich als eine kommunistische Nicht-Klassengesellschaft vorstellte (wünschte), halt selbst auflösen. Hier gilt für ihn die Dialektik: Kapitalismus als These, Sozialismus als Antithese und Kommunismus als Synthese. Wie sich jedoch konkret diese Dialektik umsetzen soll, klagte schon Lenin am Vorabend der russischen Revolution, darüber hätte der »geistige Vater« des Kommunismus so gut wie nichts hinterlassen.
So entstand ab 1917 mit der zentralen staatlichen Planwirtschaft eine künstliche Gegenordnung zur bereits lange zuvor organisch gewachsenen kapitalistischen (dezentralen marktwirtschaftlichen) Ordnung und damit in Folge ein unerbittlicher Systemkrieg zwischen Ost und West, der erst 1989 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR sein Ende fand. Im Hinblick auf die etablierte staatliche Planwirtschaft hätte Marx aber wohl kritisiert, dass es durch eine Verstaatlichung der Produktionsmittel längst noch nicht zu einer sozialistischen oder gar kommunistischen Gesellschaft kommt, sondern dass hier zunächst nur eine Verstaatlichung von Kapital als Kapital stattfindet. Auch als nicht privates Eigentum haben Produktionsmittel weiter einen Kapitalcharakter. Nur indem sie den Eigentümer wechseln und dem Staat gehören und von diesem kontrolliert werden, verlieren sie den Kapitalcharakter noch nicht. Es findet zwar keine erweiterte private Kapitalakkumulation mehr statt, dennoch bleibt ein Mehrwert produzierendes System erhalten. Die Lohnarbeit wird in einer staatlichen Planwirtschaft nicht abgeschafft. Ökonomisch besteht hier formal kein großer Unterschied zum Kapitalismus, abgesehen von der zentralen staatlichen Kontrolle des Mehrprodukts beziehungsweise des Mehrwerts, die, und das ist die sich realiter offensichtlich einstellende große Gefahr, jetzt womöglich durch eine Einheitspartei und ihre Funktionäre abgesichert, zu einer neuen sich bereichernden und herrschenden Klasse von Funktionärs-Oligarchen im Staatsapparat führt. Die Partei beziehungsweise die Spitzenfunktionäre haben das absolute Entscheidungsrecht, dem sich jedes normale Parteimitglied bedingungslos unterzuordnen hat. Die Partei hat immer Recht. Das von Marx formulierte demokratische Prinzip, dass »die Erzieher selbst erzogen werden müssen«, widerspricht dabei vehement einer solchen Diktatur der Einheitspartei über das Proletariat. Hier wären Marx und Keynes wohl einer Meinung gewesen. Als politisch Liberaler lehnte Keynes alles Totalitäre ab. Bezogen auf den »russischen Kommunismus« erwartete er zudem keine wesentlichen theoretischen (wissenschaftlichen) Impulse für die Nationalökonomie, während er mit Marx wohl sofort übereingekommen wäre, dass der auf Privatinitiative gründende Kapitalismus sich selbst nicht regulieren kann, sondern krisenimmanent ist. Dies kann auch zu einer dauernden Arbeitslosigkeit führen. Marx spricht hier von einer arbeitslosen »Reservearmee« und Keynes von einem »gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung«.
Der nie existente Kommunismus, wie immer sich ihn Marx auch vorgestellt haben mag, ist wohl endgültig mit dem Untergang der Sowjetunion zu Grabe getragen worden. Jetzt gibt es quasi nur noch die kapitalistische Ordnung, die keinen Feind mehr hat, außer sich selbst. Dies ist aber noch nicht das Ende der Geschichte. Der Kapitalismus ist jedenfalls kein taugliches Zukunftssystem für den Erdball. Er muss dringend ersetzt werden. Der Ökonom Ota Šik hat uns einen »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunismus aufgezeigt. Dazu, so seine Botschaft, ist die heute einseitig kapitalistisch geprägte Wirtschaft dringend zu demokratisieren und zu humanisieren, und es muss zu einer Überwindung des Gegensatzes zwischen Lohn- und Mehrwertinteressen kommen. Zentraler Plan und dezentraler Markt sind dazu durch eine strenge staatliche Regulierungspolitik zu versöhnen. Dies hätte auch Keynes gefallen.