Anfang der 1970er Jahre – ich war noch im Studium – klemmte ich mir nicht wie damals üblich »Das Kapital« unter den Arm und fuhr mit der U-Bahn zur Universität. Ich tat es in meine Tasche und ging zum »Kapital«-Kurs. Ich lernte dort die Wichtigkeit dieses Buches kennen und vor allem, dass es darauf ankam, die »richtigen« Absätze gelb zu markieren. Zur dritten Veranstaltung kam ich zu spät. Ich entschuldigte mich, erklärte, ich hätte die Wohngemeinschaftskinder ins Bett bringen müssen und erntete Gelächter, denn »die wichtigste Pflicht eines jungen Kommunisten ist Pünktlichkeit« und: »Deine persönlichen Probleme interessieren hier nicht.« Hm, ich war geplättet und beschämt und sagte abends spät einem Freund am Telefon, der auch beim »Kapital«-Kurs war, ich würde nicht mehr hingehen. Auch er war böse auf mich, kritisierte mein Verhalten und machte mir deutlich, dass das so nicht ginge mit mir. Wir haben uns eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Heute kann er sich nicht mehr daran erinnern.
Später musste ich dann nacharbeiten.
Ich beschäftigte mich mit FrauenLohnArbeit und mit dem Arbeitsbegriff bei Karl Marx, bedauerte meinen »Abbruch« des »Kapital«-Kurses und arbeitete nach. Noch später verewigte ich die Frauen der Familie Marx in meinen Kalendern »Wegbereiterinnen«, auch Helena (Lenchen) Demuth (1820–1890). Lenchen Demuth war enge Vertraute und verlässliche politische Gefährtin der Familie Marx. Mit Karl Marx spielte sie Schach, wenn er gerade eine Pause vom »Kapital«-Schreiben machte und gewann nicht selten. Karl Marx soll viel auf ihr Urteil gegeben haben, schließlich war sie es, die den »Arbeiterstandpunkt« vertrat und in der Lage war, »gerade heraus ihre Meinung zu sagen«.
Wer war Lenchen Demuth?
Helena Demuth war die Tochter des Tagelöhners und Bäckers Michael Demuth und der Maria Catharina Creutz, laut Geburtsregister »von Profession nichts«. Sie wurde am 31. Dezember 1820 als fünftes von sieben Kindern in St. Wendel geboren. Schon als Zehnjährige musste sie in Trier als Dienstmädchen arbeiten. Etwa 1837 kam sie in den Haushalt der Familie von Westphalen. Jenny von Westphalen, die Tochter des Hauses, freundete sich mit ihr an, bevor sie 1843 Karl Marx heiratete. Nach der Heirat hauste das Paar mit dem ersten Kind in einer engen Wohnung. Jenny hatte nie gelernt, einen Haushalt zu führen. Auf ihr Klagen schrieb ihre Mutter: »Ich schicke Dir das treue liebe Lenchen, als das Beste, was ich dir schicken kann.« Jenny nahm die Hausgehilfin mit in ihre eigene Familie. Das Revolutionsjahr 1948/49 verbrachten sie in Köln, wo Karl Marx und Friedrich Engels die Rheinische Zeitung herausbrachten. Als Mitte Mai 1849 ein Ausweisungsbefehl Karl Marx aus Köln vertrieb, begleitete Lenchen die Familie über Frankreich und Belgien nach London ins Exil. Sie betreute die sieben Kinder, von denen vier früh starben, verwaltete die knappe Haushaltskasse und verhandelte mit den Pfandleihern. Der »praktische Hausgeist«, wie Paul Lafargue, Marx‘ Schwiegersohn, sie später nannte, lernte die englische Sprache, kochte Kartoffeln, buk Brot, schneiderte für sich und die Kinder, teilte mit »hausfraulichem Geschick« und Sparsamkeit das wenige Geld ein. Auch Freuden und Leiden, Erfolge und Niederlagen teilte sie mit der Familie Marx.
Am 23. Juni 1851 gebar Helena den Sohn Henry Frederick (Freddy). Jenny von Westphalen besorgte eine Amme für Freddy, die Fuhrmannsfamilie Lewis nahm ihn in Pflege, weil die Marx‘sche Behausung zu armselig und ungesund für ein weiteres Kind war. Nach den neueren Forschungen war Karl Marx der Vater von Freddy, obwohl sich Friedrich Engels als solcher bekannte. Freddy erlernte den Beruf des Büchsenmachers, organisierte sich gewerkschaftlich und in der Labour Party.
Nach dem Tod von Karl Marx, den Lenchen Demuth während seiner Krankheit liebevoll gepflegt hatte, führte sie das Haus von Friedrich Engels, mit dem sie eine kameradschaftliche Partnerschaft verband und politische Fragen und »Partei-sachen« erörterte. Als Mitgestalterin der sonntäglichen Tafelrunden lernte sie SozialistInnen aus vielen Ländern kennen. Die »treue Genossin«, wie August Bebel sie bezeichnete, war es auch, die den schriftlichen Nachlass von Karl Marx ordnen half und dabei die Manuskripte zum zweiten Band des »Kapitals« entdeckte. Friedrich Engels sicherte sie ungestörte Stunden am Schreibtisch, wie sie das vorher für Karl Marx getan hatte. Nachdem sie im Oktober 1890 schwer erkrankt war, starb sie am 4. November 1890 in London und wurde auf dem Londoner Highgate-Friedhof beerdigt.
Schlussbetrachtung
Als ein Historiker-Kollege 2008 den Kalender »Wegbereiterinnen VI« mit dem Porträt von Lenchen Demuth in den Händen hielt, meinte er zu mir: »Wie mag Jenny von Westphalen wohl gelitten haben?« Ich sah ihn an und fragte: »Wieso?« Er zögerte etwas und erwiderte: »Sie meinen wohl, wir wissen nicht, welche Beziehung die Frauen untereinander hatten?« Nein, das wissen wir nicht, und wir werden es auch nicht mehr erfahren. Außergewöhnliche Zusammenlebensformen gab es immer in der Geschichte und wird es auch weiter geben. Jenny von Westphalen war für Marx Geliebte, Sekretärin und Kampfgefährtin. Sie las, korrigierte und schrieb seine oft unleserlichen Manuskripte ab und sorgte so für die Druckreife seiner Schriften. Ihre jüngste Tochter Eleanor Marx-Aveling schrieb einmal: »Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, ohne Jenny von Westphalen hätte Karl Marx niemals der sein können, der er war.« Vielleicht hätte er auch ohne die »treue Genossin« und lebenslange Freundin Helena Demuth das »Kapital« nicht schreiben können. Friedrich Engels schrieb in seinem Trauerbrief: »Lenchen und ich waren die zwei Letzten der alten Garde von vor 1848. Wenn während langer Jahre Marx und ich Ruhe zum Arbeiten fanden, so war das wesentlich ihr Werk. Ihren wunderbar taktvollen Rat in Parteisachen werde ich schmerzlich entbehren.«
Gisela Notz: »Helena (Lenchen) Demuth (1820–1890)«, in: Dies. (Hg.): »Kalender Wegbereiterinnen VI 2008«, Kalenderblatt Februar 2008. (Der Kalender 2018 ist soeben erschienen, AG-SPAK-Verlag, DIN A3, 15 Blatt, 14,50 €)
Ingrid Artus, Gisela Notz u. a.: »Marx für SozialwissenschaftlerInnen. Eine Einführung«, Springer VS Verlag, 236 S. 18,99 €.
Gisela Notz, Historikerin und Sozialwissenschaftlerin, lebt und arbeitet in Berlin.