»Wenn Marx zum Künstler wird« – so überschrieb Die Zeit am 31. Mai 2015 ihren Bericht über die 56. Biennale Venedigs, die weltweit bedeutende Präsentation avantgardistischer Kunst. Sie wird seit über 100 Jahren im Zweijahresrhythmus jeweils von Juni bis Oktober organisiert.
2015 stand die Biennale unter dem Motto »Zukünfte der Welt«. Meine Frau und ich nutzten unseren Urlaubsaufenthalt in der Gegend, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Der traditionsreiche Campo de Arsenale (eine historische Werftanlage der Stadt), war Hauptausstellungsort der Kunstschau. Hier wurden täglich Lesungen aller drei Bände des Marx‘schen »Kapitals« veranstaltet. Von der ersten bis zur letzten Seite. Der Kurator Okwui Enwezer hatte die avantgardistischen Beiträge eingerichtet. Hauptamtlich war er zu diesem Zeitpunkt in der Kunsthalle Münchens tätig. Ausstellungserfahrungen hatte er mit der Documenta sammeln können, wie ein Katalog informierte. Der Lesepavillon war von außen mit düsteren Tüchern dekoriert. Auch das Innere war dunkel gehalten. Ein erster Raum enthielt kleine Bilder, die alle Hinweisschildchen »The End« trugen. Die Zeit sei abgelaufen. Laut Kurator symbolisiert die traurige Stimmung die Machtlosigkeit der Gegenwart. Soll Marx als Metapher dagegen Hoffnung geben? Im Lesesaal klangen im Hintergrund internationale Arbeiterlieder, wohl um bei den Besuchern die Spannung zu halten. Enwezer gab keine klare Interpretation seiner Arrangements zum Thema Marx. Das ist in Kunstausstellungen auch nicht üblich. Jeder Besucher macht sich ohnehin seine eigenen Gedanken über das ausgestellte Werk. Der Kurator ging wohl davon aus, dass ohne Wissen über die Zeit, in der Marx sein epochales Werk vollbrachte, und ohne Wissen über die vermeintliche Zielstellung der drei Bände des »Kapitals«, kaum Erkenntnisse zu entwickeln seien. Immerhin: Marx und sein Werk sollen zum Nachdenken anregen. Unser Nachsinnen führte in mehrere Richtungen:
Es gehört zu den mutigen Entscheidungen der Ausstellungsleitung und signalisiert Fortschrittsgläubigkeit, Marx und sein Werk für die avantgardistische Weltschau auszuwählen, zumal die allgemeine Verdammung des Sozialismus nach 1989 politische und mediale Praxis ist.
Marx sah es als seine Generationsaufgabe an, die Ideen der früheren Aufklärer Englands (Morus, Hobbes, Locke, Hume u. a.), Frankreichs (Rousseau, Saint-Simon, Fourier u. a.) Deutschlands (Kant, Hegel, Leibniz u. a.) und die unerfüllten Ziele der Revolution der französischen Bürger von 1789 mit seinen Forschungen über die Ursachen des Elends, der Ungerechtigkeiten zu unterstützen. Er leistete seinen persönlichen Beitrag mit der Erforschung der chaosschwangeren Profitmechanismen. Das alles war eine arbeitsreiche und komplizierte Aufgabe für Marx und seine Mitstreiter. Ursachen der Probleme zu erkennen ist ein erster wichtiger Schritt. Sie zu verändern ist eine Frage der Macht. Nachfolgenden Generationen von Marx bis zur Gegenwart kommen Aufgaben zu, Gerechtigkeiten, umfassende Freiheiten und ein solidarisches Miteinander herzustellen. Erste Wegstrecken hat Marx mit Engels beschrieben. So unter anderem im »Kommunistischen Manifest«.
Der Beschluss der UNESCO, die Leistungen von Marx in dem »Gedächtnis der Menschheit« zu verewigen, konkret »Das Kapital« Bd. I und das »Kommunistische Manifest« auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes zu setzten, bedeutet höchste Anerkennung.
Die Zukunft ist zunächst eine weitere Epoche der Evolution. Sie ist an sich keine Gefahr für die Welt. Der Dialektiker Bertolt Brecht beschrieb den Kern des Problems so: »Wenn das so bleibt, was ist, seid ihr verloren.« Es geht um Ein- und Umlenken, bei uns und in der Welt.
Eine im Canale della Giudecca schwimmende Eisbergimitation war eine weitere bedeutende Metapher der Kunstschau, die zum tiefen Nachdenken über unsere Welt anregte.