Den ersten Satz von Karl Marx, der bei mir haften geblieben ist, las ich 1961 in seiner Frühschrift »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« von 1844. Dort formulierte er einen »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Das war ein einleuchtendes praktisches Programm. In der Folgezeit las ich politische Schriften von Marx, Engels, Lenin, Rosa Luxemburg und Karl Korsch, über Wirtschaft nur Engels‘ Aufsatz »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie«, ebenfalls von 1844. Besonders beeindruckte mich Marx‘ »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« (1852). So musste man Geschichte schreiben: als die manchmal langsame, sich zuweilen überstürzende Aufhebung einer Situation durch eine andere, die von der vorangegangenen hervorgebracht wird, diese damit obsolet macht und Leute, die sich am gerade noch aktuell Gewesenen festhalten wollen, blamiert – Dialektik. Ohne Marx‘ heißen Atem konnte man Zyniker werden, mit seiner Zukunftssicherheit jedoch nicht.
»Das Kapital« hatte ich mir 1961 ebenfalls schon gekauft, bei einer Reise in die DDR, die drei Bände waren damals noch braun. Ich las sie nicht, stellte sie mir in den Schrank und nahm an, sie enthielten die ökonomische Letztbegründung für die von mir vorab für gut befundene künftige Beseitigung aller bedrückenden Verhältnisse.
Bei Wolfgang Abendroth in Marburg, dorthin kam ich 1965, wurde politischer Marxismus betrieben.
1965/66 las ich aber dann doch schon die drei Bände »Kapital«, wie ein Streber, in einem Zug, damit ich die Letztbegründung endlich intus hatte. Aber ich verstand nur, was ich verstehen wollte und mit der Aufforderung von 1844 übereinstimmte. Hierher gehörte der Satz aus dem von mir im Übrigen unbegriffenen Fetisch-Kapitel: »Stellen wir uns, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben.« Dazu das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation«: Wachsender Einsatz von Maschinen erzeugt in der Tendenz ständig steigende Arbeitslosigkeit. Schließlich das Kapitel 24 des ersten Bandes: die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« über die Gründungsverbrechen der bürgerlichen Gesellschaft.
Danach zehn Jahre wieder politischer Überbau.
1976 begann ich neu mit der »Kapital«-Lektüre, und diesmal hörte sie nicht mehr auf. Formaler Rahmen waren von mir veranstaltete Lesekurse und Vorlesungen an der Universität. Derlei gehörte einige Jahre zum Standardangebot, auch andernorts. Geschadet hat es gewiss niemandem, genützt sicher einigen. Zumindest lernte man ordentliche Philologie an einem relevanten Gegenstand. Die Einzwängung in ein Semestercurriculum reichte nur zu einer Auswahl: der größte Teil des ersten Bandes, aus dem zweiten die Reproduktionsschemata, im dritten Produktionspreis, Profitrate und deren tendenzieller Fall. In Umkehrung früherer Einseitigkeit ließ ich die Politik und ging Gramsci aus dem Weg: keine Ahnung von Ökonomie, der Mann. Die Elendsschilderungen aus dem ersten Band und die Aussichten auf Umstürze waren mir jetzt eher peinlich.
Ganz am Ende, nachdem ich die Universität schon sieben Jahre hinter mir hatte, fasste ich die Ergebnisse von achtundzwanzig Jahren lehrendem Lernen in einem Text von 126 Seiten zusammen: »Das Kapital« als Konzentrat: Es zeige nicht nur, wie der Kapitalismus eventuell enden könne, sondern auch, wie er funktioniere.
In gewisser Weise ging es danach erst richtig los. Seit 2012 liegt das gesamte »Kapital« in der zweiten Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) vor. Das sind nicht mehr die drei Bände der bisherigen Werk-Ausgabe (MEW, hier: Band 23, 24, 25), sondern fünfzehn. Jetzt kann detailliert nachgesehen werden, was man vorher schon im Allgemeinen wusste: »Das Kapital« als abgeschlossenes Werk gibt es nicht, sondern nur einen Torso.
Dies gilt fast noch für den ersten Band, den Marx zwar selbst 1867 veröffentlicht hat, aber für verbesserungsbedürftig hielt. Die zweite Auflage von 1872 war schon anders als die erste, die französische Übersetzung von 1872–1875 sollte seinem Wunsch nach auch für spätere deutsche Editionen herangezogen werden. Engels, unter schwerem Zeitdruck, konnte das für die dritte (1883) und vierte (1890, sie liegt dem von uns gewöhnlich benutzten MEW-Band 23 zugrunde) nur teilweise berücksichtigen. (Thomas Kuczynski hat das jetzt nachgeholt und eine Fassung erstellt, die seiner Meinung nach der letzten Intention Marx‘ am ehesten entsprechen könnte. So ist 2017 zu einem guten Jubiläumsjahr geworden: »Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. Neue Textausgabe«, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski, VSA, 800 Seiten, 19,80 €).
Noch unvollendeter sind die Bände zwei und drei: Sie sind aus Fragmenten zusammengestellt, und der dritte musste teilweise ergänzt werden. Ursache ist nicht in erster Linie die Tatsache, dass Marx nicht einmal fünfundsechzig wurde, sondern die Unmöglichkeit, den Gegenstand vollständig zu fassen. Immer wieder hat Marx an der Begrifflichkeit gearbeitet, auch für Termini, die festzustehen schienen. Weil die Geschichte des Kapitalismus noch nicht fertig war, ist und war ständig neue Analyse erforderlich, auch wenn einige Grundstrukturen – zum Beispiel W – G – G´ (schlagen Sie nach: MEW 23, S. 170) – bleiben.
Noch toller: Selbst wenn es einen Text letzter Hand gäbe, stünde seine Rezeption nicht ein für alle Mal fest. Als der französische Philosoph Louis Althusser ab 1965 »Das Kapital« als die Wiedergabe einer zeitlosen Struktur las, spiegelte sich darin die Perspektivlosigkeit der kommunistischen Bewegung im Wohlfahrtskapitalismus. Die heute hegemoniale »Neue ›Kapital‹-Lektüre« gewinnt ihre scheinbare Evidenz durch aktuell erfolgreich behauptete Alternativlosigkeit. In den linken Bewegungsjahren rund um 1968 wurden die Beschreibungen von Engpässen kapitalistischer Entwicklung, die eine Umwälzung nahelegten, höher eingeschätzt. Seit der Finanzkrise 2007 entdecken wir die Ausführungen des dritten Bandes zum zinstragenden und zum fiktiven Kapital nachgerade neu. Die sich anbahnende Industrie 4.0 lässt uns das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation mit anderen Augen sehen als vor fünfzig Jahren.
Die kapitalistische Realität beleuchtet den ohnehin zerklüfteten Text immer neu: Einiges, das für wichtig gehalten wurde, verschwindet für einige Zeit, Anderes, bislang übersehen, taucht auf.
Man kommt, wenn man sich darauf einlässt, einfach nicht zur Ruhe.