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Titel1718

Monatsrückblick: Der Rechts-Empfindungs-Staat  (Jane Zahn)

Was waren das doch für Zeiten, als die Bundesrepublik stolz darauf war, ein Rechtsstaat zu sein!

 

Wissen Sie noch: Ein Rechtsstaat zeichnet sich durch die Gewaltenteilung aus, Legislative, Exekutive und Judikative sind getrennt, Richter sind unabhängig … Vorbei, vorbei! Der Innenminister Nordrhein-Westfalens, Herbert Reul (CDU), ermahnt stattdessen die Justiz: »Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen« (Rheinische Post vom 16.8.18). Und Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister, Lorenz Caffier (CDU), mahnt: »Wenn Gerichtsurteile von der Bevölkerung nicht mehr verstanden werden, hat die Justiz ein Vermittlungsproblem« (Märkische Allgemeine Zeitung, 17.8.18).

 

Nein, sie sagen nicht »Volksempfinden« und auch nicht »gesund«, aber wenn es nicht mehr nach dem Gesetz, sondern nach dem »Empfinden der Bevölkerung« geht (übrigens: welchen Teil der Bevölkerung meinen sie?), dann ist es zu »Schwanz ab!« und »Rübe ab!« nicht mehr weit. So weit waren wir Deutschen schon mal. Da muss die AfD gar nicht an die Regierung kommen.

 

Das Rechtsempfinden der Regierenden lässt ja so schon sehr zu wünschen übrig. In den letzten Jahren gab es ungezählte Gesetze, die vom Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung der Grundrechte wieder kassiert wurden. Ja, auch Asylbewerber haben Grundrechte, denn Artikel 1 des Grundgesetzes heißt nicht: »Die Würde des Deutschen ist unantastbar.«

 

Und was war geschehen? Ein abgelehnter Asylbewerber wurde abgeschoben, obwohl sein Verfahren vor dem Amtsgericht noch nicht entschieden war und das Gericht gegen die Abschiebung entschieden hatte. »Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet«, urteilte die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalens, Ricarda Brandts, gegenüber der Deutschen Presseagentur (zitiert nach junge Welt vom 17.8.18).

 

Die Grenzen des Rechtsstaats werden durch die neuen Polizeigesetze nicht mehr ausgetestet, sondern überschritten. Sie werden überschritten, wenn Menschen willkürlich weggesperrt werden können, weil sie als »Gefährder« eingestuft werden, wenn ein junger Mann (Claudio K.) sein Kind nicht mehr sehen darf, weil ihm unterstellt wird, auf einer Demonstration körperliche Gewalt angewendet zu haben, obwohl er laut junge Welt nachweislich die ganze Zeit im Lautsprecherwagen saß. Und sie werden überschritten, wenn Menschen, die Glasmurmeln mit sich führen, als gewaltbereite Demonstranten zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt werden wie Stanislaw B. Der 24-jährige Pole war circa 70 Minuten vor der Demonstration »Not welcome« am 8. Juli 2017 in der Hamburger Innenstadt festgenommen worden. In seinem Rucksack fanden Polizisten unter anderem zwei Murmeln. Der Richter sah es als erwiesen an, dass B. sich auf dem Weg zu der G-20-kritischen Demonstration befand, und sprach ihn wegen Verstößen gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz sowie gegen das Versammlungsgesetz schuldig. Eine sechsmonatige Bewährungsstrafe wurde verhängt. Die Berufung ergab im Februar 2018 eine Geldstrafe von 1440 Euro, weil der Straftatbestand der Körperverletzung nicht gegeben sei. Aber allein die eventuelle Absicht, auf einer Demonstration eine Taucherbrille zu tragen, um sich gegen Reizgas zu schützen, ist schon strafbewehrt. (Hamburger Abendblatt 15.2.2018)

 

Wenn ein LKA-Angestellter, der (im Urlaub) bei Pegida mitmarschiert, sein Bild nicht im Fernsehen sehen will und das ZDF-Team deswegen beschimpft und angreift, und wenn die Polizei deswegen das Team 45 Minuten lang an der Arbeit hindert, und wenn dann der Innenminister das für »seriös« hält, dann handelt es sich allerdings um einen »Rechtsstaat«, einen, der rechts handelt und nicht rechtens.

 

Andererseits soll jeder, der sich aufmachen möchte, um für Frieden und soziale Gerechtigkeit und gegen die Regierung zu demonstrieren, Angst haben, verhaftet und stigmatisiert zu werden, das entspricht dem Rechts-Empfindungs-Staat, in dem man nicht links empfinden soll.

 

Sondern reagieren soll wie die Zuhörer im Bierzelt beim CSU-Wahlkampf am 2. August in Töging, Oberbayern, wo Horst Seehofer umjubelt wird, wenn er sagt: »Ich bin auch froh über jeden, der bei uns in Deutschland straffällig wird und aus dem Ausland stammt. Auch die müssen das Land verlassen.« (zitiert nach junge Welt vom 4./5.8.18)

 

Die (staatliche) Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) hat den Investitionsstau der Kommunen auf 159 Milliarden Euro beziffert. Davon werden 47,7 Milliarden Euro dringend benötigt, um in den Schulen Dächer, Toiletten und andere zivilisatorische Notwendigkeiten zu reparieren und zu sanieren. Ganz zu schweigen von den Gehältern für 35.000 fehlende Lehrer/innen (laut Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes in der MAZ vom 13.8.18). Wo bleibt da das Rechtsempfinden der Bevölkerung? Und das der von ihr gewählten Politiker?