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Titel1718

Insel des Minimalismus  (Frank Schumann)

Die meisten Brücken sind einspurig. Wenige Meter zuvor bittet das Schild »EINBREI BRU«, auf mögliche Entgegenkommer zu achten. Die Gefahr ist gering, je weiter man auf der Ringstraße nach Norden fährt. Auch an Wegweisern wird gespart. Einer muss genügen, um die Richtung zu deuten. Man fährt und fährt und fragt sich nach einer Stunde oder zwei, ob man wohl noch immer in der Spur ist, die zum Ziel führt. Und ob das Benzin reicht, denn die nächste Tankstelle kommt eventuell erst wieder in hundertfünfzig Kilometern oder noch später. An den wenigen ausgewiesenen Parkplätzen vermisst man Abfallbehälter, was eine ziemlich sinnvolle Idee ist: Die Reisenden müssen ihren Abfall mitnehmen. So gibt es nirgendwo überquellende Müllkörbe. Allerdings gibt es auch keine Toiletten, was mitunter ein drängendes Problem darstellt, wenn nirgends ein Strauch oder gar ein Wäldchen wächst. Der stets über die karge Landschaft streichende Wind vom Atlantik hält die Vegetation, sofern überhaupt vorhanden, ziemlich kurz. Selten nur steht am Rande der Piste ein mobiles Häuschen, dessen rettende Existenz jedoch zuvor mit einem ungewöhnlichen Piktogramm angezeigt wird: ein Türchen mit einem ausgeschnittenen Herz. Auch die Dixi-Klos sind, wie das meiste auf diesem Eiland, vernünftig: Der Wartungsaufwand ist minimal.

 

Rings um die Insel, die so viel Fläche bedeckt wie einst die DDR, führt die Straße Nr. 1. Nur im felsigen Nordwesten besteht sie aus einer Schotterpiste, die sich in Serpentinen nach oben windet. Selbst in luftiger Höhe fehlen Leitplanken, was meine Frau auf dem Beifahrersitz beim Blick aus dem Fenster ein ums andere Mal spitze Schreie ausstoßen ließ. Darin schwang auch vernehmlich der Verdacht mit, wir wären auf einem Irrweg. Zumal sie bereits das funktionslos gewordene Smartphone verärgert auf den Rücksitz gefeuert hatte: kein Empfang. Irgendwann stießen wir nach Stunden wieder auf Asphalt und die Bestätigung, dass wir noch immer auf der Nr. 1 rollten. Schließlich fanden wir am Abend unser Quartier in einem Hafenstädtchen mit unaussprechlichem Namen. Nahezu alle Orte auf Island sind für unsereinen Zungenbrecher, die Namen korrekt in Google Maps einzugeben scheiterte allein schon an ihrer Vielsilbigkeit. Zumal sie einige Buchstaben enthalten, die unser Alphabet nicht kennt. Was zum Beispiel bedeutet þ oder ð, und wie spricht man das aus?

 

Nachdem wir bereits an die zweitausend Kilometer zurückgelegt hatten und Reykjavik vor uns lag, sparten wir uns die tausend isländischen Kronen für die Passage des Hvalfjarðargöng, des im Juli vor zwanzig Jahren eingeweihten Straßentunnels. Er ist sechs Kilometer lang und führt 165 Meter in die felsige Tiefe. Wir nahmen stattdessen die ursprüngliche, um fünfzig Kilometer längere Straße, die den Fjord umrundet. An dieser liegt das »War and Peace Museum« von Hlaðir. Es befindet sich an einer Wegkreuzung in einem typisch isländischen, also effektiven Gebäudekomplex: Das alleinstehende Gemeindehaus (für Dutzende über Quadratkilometer verstreute Wohnbauten) beherbergt ein – natürlich mit warmem Wasser aus dem felsigen Grund gespeistes – Bad, ein kleines Restaurant und eben jenes Antikriegsmuseum, dessen Exponate ein auf der Insel bekannter Fernsehmoderator in jahrelanger Sammelarbeit allein zusammengetragen hat. Es handelt sich vornehmlich um Fotos und zeitgenössische Devotionalien – von der Milchkanne bis zur Gasmaske. Alles ist sympathisch unsortiert und frei jeglicher Erklärung, es vermittelt damaligen Zeitgeist und nimmt zugleich die Bedrückung des Weltkriegs durch ihre Niaiserie. Besonders wenn man in einem Ledersofa aus einem seinerzeitigen Herrenzimmer versinkt. Eventuell saß darin Churchill, denn der besuchte während des Krieges die Bucht.

 

Und vorm Haus gibt es eine Wiese, auf der Camper ihre Zelte aufschlagen können.

 

Die politische Botschaft wird weniger von einem amerikanischen Lastkraftwagen aus Kriegstagen am Eingang vermittelt, sondern vielmehr von der tuchschwenkenden bemalten Bronzefigur »Hope for Peace«, die sich in keinem Reiseführer findet. Vielleicht deshalb, weil sie erst im November vergangenen Jahres vom isländischen Ministerpräsidenten und dem Gouverneur von Archangelsk enthüllt wurde. Vielleicht aber auch, weil es ein Geschenk aus Russland ist, mit dem an die erfolgreiche, friedensstiftende Zusammenarbeit erinnert wird: Viele Schiffskonvois steuerten damals von hier aus Archangelsk in Nordrussland an. Die in Metall getriebene Inschrift am Sockel »In memory of sailors who fought against fascism during World War II« finde ich allein schon deshalb erwähnenswert, weil sie den Faschismus korrekt als Faschismus benennt und nicht die in Deutschland vorzugsweise benutzte und von den Faschisten selber erfundene Titulierung »Nationalsozialismus« gebraucht. Die Nazis waren bekanntlich weder national gesonnen – sie sorgten für die größte nationale Katastrophe – noch sozialistisch, denn die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse der deutschen Wirtschaft wurden nicht nur nicht angetastet. Sie allein waren der Grund, weshalb Hitlerdeutschland die Welt mit Krieg überzog.

 

Und eben jenes Völkermorden lieferte die Ursache für dieses Museum an diesem Ort. Denn in dessen Sichtweite, am Ende des Fjords, errichteten die westlichen Hauptmächte der Antihitlerkoalition, USA und Großbritannien, zwei getrennte Marinestützpunkte. Die Briten hatten 1940 die Insel besetzt, die Amerikaner kamen im Jahr darauf. Von hier liefen Schiffe zur Sicherung der Nachschubkonvois für die Sowjetunion und im Kampf gegen faschistisch-deutsche U-Boote aus. Als sich 1945 die Mission erledigt hatte, gaben die Marinekommandos die beiden Orte auf. Vom einstigen britischen Headquarter – historische Fotos im Museum zeigen dessen gewaltige Ausdehnung – existieren nur einige wenige Ruinen und eine verrostete, in Teilen bereits ins Wasser gestürzte Pier. Von der Anwesenheit der Amerikaner zeugen einige noch immer genutzte Nissenhütten, jene halbrunden Behelfsunterkünfte aus Wellblech, die während des Ersten Weltkrieges vom kanadischen Ingenieur Nissen entwickelt worden waren. Diese Bauten gehören zur isländischen Walfangstation, die nach dem Abzug der Amerikaner 1948 hier unterkam und noch immer betrieben wird, wovon nicht nur die Öltanks künden. An der Brücke schaukeln zwei Schiffe, mit denen Wale »zu wissenschaftlichen Zwecken« harpuniert werden. Das Fleisch der Meeressäuger wird zu großen Teilen nach Japan exportiert und dort zu Hundefutter verarbeitet. Denn von den Isländern selbst wird aus verschiedenen Gründen der Verzehr verweigert und gegen den Walfang protestiert, weil der auch dem »Whale Watching« – einer wichtigen Säule der Tourismusindustrie – wenig zuträglich ist. Die Wale meiden deshalb die küstennahen Gewässer. Die zuständigen politischen Institutionen befinden sich dem Vernehmen nach noch immer in der Phase der Prüfung, ob Island auf den Walfang verzichten soll oder nicht. Der Grund für die unvernünftige Haltung: Das selbstbewusste, auf Eigenständigkeit beharrende Island mag keine auswärtigen Vorschriften, so auch nicht das Verbot des kommerziellen Walfangs von 1982, das damals die Internationale Walfang-Kommission erließ. 2017 beschränkte sich Island immerhin auf ein Minimum von fünfzig Zwergwalen. Die Quote von 154 ebenfalls zur Jagd freigegebenen Finnwalen nahm man nicht in Anspruch. Der eigentliche Grund: Die inzwischen in Japan verfügten hohen Importhürden machten die »wissenschaftlichen Zwecke« unökonomisch.

 

Ja, Island ist ein wunderschönes, einzigartiges Land mit wunderbaren Menschen, mit ungewöhnlichen Übernachtungsmöglichkeiten und spektakulären Sehenswürdigkeiten, mit moderner Architektur und wundersamen Besuchen und Begegnungen etwa im Haus von Halldór Laxness. Mit Berichten darüber ließen sich ganze Hefte füllen. Vielleicht demnächst mehr, so es die Redaktion wünscht.