Die Ausländermeldekartei meiner Heimatgemeinde Ahrensbök mit rund 5000 Einwohnern registrierte bis 1945 zusätzlich 1294 Zwangsarbeiter – vornehmlich aus Belgien, Polen und der UdSSR. Sie arbeiteten ab 1940 in Betrieben (zum Beispiel Globus Gummiwerke, Flachsröste) und auf Bauernhöfen, aber auch in Privathaushalten. Die 17-jährige Wanda Bankowska aus Polen war beispielsweise 1940/41 Hausgehilfin in meinem Elternhaus. 243 von ihnen waren jünger als 15 Jahre. 28 kamen als Kinder in Ahrensbök zur Welt. Nicht registriert wurden Polen aus den damals noch zu Deutschland gehörenden Gebieten Niederschlesiens: Rund 100 Frauen und Männer halfen ab 1937 als Experten für Flachs und Leinen beim Aufbau einer der größten Flachsrösten in Norddeutschland auf dem ehemaligen Gelände des frühen Konzentrationslagers Ahrensbök (1933/34). Ab 1940 kamen hier 446 der registrierten polnischen Zwangsarbeiter hinzu.
300 Auschwitz-Häftlinge, deren Todesmarsch in der Gegend von Ahrensbök Mitte April 1945 endete, wurden Anfang Mai auf den stillgelegten Luxusliner Cap Arcona in der nahegelegenen Lübecker Bucht deportiert. Nicht wenige von ihnen gehörten am 3. Mai 1945 zu den rund 7000 Häftlingen, die auf diesem und einem weiteren Schiff ums Leben kamen, als die britische Luftwaffe diese schwimmenden KZs bei Neustadt/Holstein als vermeintliche deutsche Truppentransporter angriff. Zeugen dieser Katastrophe waren auch Tausende von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die sich ab Februar 1945 gezwungen sahen, hier in Ostholstein eine neue Heimstätte in der Fremde aufzubauen. Schon ab 1943 hatte der Strom ausgebombter Bewohner aus Kiel und Hamburg nach Ahrensbök zugenommen. Die große Zahl an Flüchtlingen führte unter anderem zur Schließung der Volksschule in Ahrensbök vom Februar 1945 bis Ostern 1946. Es kam zur konfliktreichen Überfüllung aller Haushalte, besonders bei denen, die Zwangsarbeiter beschäftigten. Die Kreisverwaltung zur Flüchtlingsfrage im Kreis Eutin registrierte noch am 20. April 1948 in Ahrensbök allein 6840 Flüchtlinge unter den damals insgesamt 11.033 Einwohnern der Gemeinde. Einige von ihnen wurden neben der Volksschule in Baracken untergebracht, die zuvor Zwangsarbeitern als Behausung gedient hatten, zum Beispiel die Globus-Baracke mit jetzt 27 Insassen. In zwei Baracken der Flachsröste kamen 88 Personen unter und in der Mentz-Baracke im Hörsten 54. Die noch nicht repatriierten ehemaligen Zwangsarbeiter und überlebenden KZ-Häftlinge kamen ab Mitte Mai 1945 in die nahegelegenen Displaced-Persons-Lager (DP-Lager) in Neustadt oder in das Sammellager der Ostseebäder Haffkrug und Sierksdorf. Unter den rund 10.000 Personen befanden sich dort auch die wenigen Überlebenden der Schiffskatastrophe vom 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht.
Die aus ihren Häusern ausgewiesenen Einheimischen fanden nur mühsam Notunterkünfte in der Region. Das galt auch für die Bewohner des Ostseebades Scharbeutz. Denn hier richtete die englische Besatzungsmacht ein Kur- und Erholungslager für die britischen Soldaten ein. Im DP-Lager warteten viele allzu lange auf die Rückkehr in ihre Heimat oder die Gewährung eines Exilortes in Europa, den USA oder ab 1948 in Israel. Da unter den rund 10.000 ehemaligen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern in dieser Gegend sich allein 5000 Polen befanden, nannte der Volksmund diese kurze Nachkriegsperiode in den Ostseebädern abwertend »Polenzeit«.
Dass wir über diese Zeit einiges wissen, verdanken wir dem 1880 in Lübeck geborenen Innenminister und ersten gewählten Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein, Hermann Lüdemann. Er forderte die lokalen Behörden des Landes ab 1946 immer wieder auf, Dokumente über Verfolgung und Vertreibung zu sammeln und für die Holocaustopfer würdige Grabstellen anzulegen. Als ehemaliger Regierungspräsident von Niederschlesien hatte er 1933 zu den ersten Opfern des faschistischen Terrors gehört. Der Sozialdemokrat Lüdemann wurde 1933 in das Breslauer KZ Dürrgoy eingewiesen und in einem Clownskostüm durch die Straßen Breslaus getrieben, verhöhnt und bespuckt von den Nazis, wie der aus Breslau stammende deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern als Zeitzeuge erinnert. Anschließend durchlief Lüdemann die KZs Esterwegen, Lichtenburg und Sachsenhausen. Von dort wurde er am 21. April 1945 auf einen Todesmarsch Richtung Lübecker Bucht geschickt. Die Cap Arcona blieb ihm erspart, weil der Todgeweihte in einem Häftlingslazarett in Mecklenburg versteckt überlebte.