»Von allen ökonomischen Schriftstellern« hab‘ ich ihn »am liebsten, und ich kann ihn aus rein intellektuellem Vergnügen 100mal nacheinander lesen«, schrieb Rosa Luxemburg. Franz Mehring nannte ihn einen Mann, der es ehrlich meinte »mit der Arbeiterklasse … Er hätte wohl ein besseres Schicksal verdient, als so gänzlich vergessen und verschollen zu sein …« Gemeint ist Karl Rodbertus (1805–1875). Nach Reisen durch Westeuropa hatte er das bei Demmin gelegene Gut Jagetzow gekauft. Dort beschäftigte er sich ab 1836 zum Spott seiner junkerlichen Nachbarn mit ökonomischen Studien. Er galt ihnen als Sonderling. Die marxistische Theoriengeschichtsschreibung sah in ihm später den Theoretiker des junkerlichen oder kleinbürgerlichen utopisch-reformistischen Staatssozialismus. Rodbertus als Repräsentanten des Grundeigentums schwebte ein harmonischer Bund zwischen seiner Klasse und den Arbeitern gegen das Kapital vor. »In jenem Zustande mit Kommunismus an Boden und Kapital«, schrieb er, »sind Eigentum, Freiheit und Gleichberechtigung überhaupt und allein erst rein und vollständig zu verwirklichen.« Er sah die Klassengegensätze, lehnte aber den Klassenkampf ab. Sein Ideal: ein Sozialismus durch »friedliche Rechtsetzung«, sozialreformistische Attitüde, die ihn in eine Reihe mit Humanisten wie Saint Simon (1760–1825), Sismondi (1773–1842) und John St. Mill (1806–1873) stellt. Eine Frucht seiner Studien, so der Theorienhistoriker Günther Rudolph, »war der 1839 an die Augsburger Allgemeine Zeitung eingesandte, aber entsetzt zurückgewiesene Aufsatz ›Die Forderungen der arbeitenden Klassen‹, der keimhaft fast alle die später ausgeführten sozialökonomischen Anschauungen enthält und in unmittelbarer Bezugnahme auf Saint-Simon utopisch-sozialistische Positionen vertritt«.
Karl Marx bescheinigt Rodbertus, »das Wesen der kapitalistischen Produktion durchschaut« zu haben. Friedrich Engels schrieb, er war nahe daran, »dem Mehrwert auf die Spur zu kommen«. Im Jahre 1842 hatte Rodbertus seine Schrift »Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände« veröffentlicht, in der er den Deutschen die Arbeitswerttheorie David Ricardos (1772–1823) entdeckt. Später warf Rodbertus dem Autor des »Kapital« vor, seinen Gedankengang ganz hübsch benutzt zu haben, ohne ihn zu zitieren. Die Anklage, Marx habe ein Plagiat an Rodbertus begangen, wurde nach seinem Tode von deutschen Katheder- und Staatssozialisten und deren Anhang, so Engels, »als ausgemachte Tatsache verkündet«. Marx vorzuwerfen, »er habe Rodbertus Dinge entwendet, die schon in A. Smith und Ricardo zu lesen stehen«, beweise, so Engels, »wie tief die offizielle Ökonomie heute heruntergekommen ist«. Dabei war die literarische Tätigkeit des Herrn Rodbertus Marx bis gegen 1859 unbekannt geblieben, während seine eigne Kritik der politischen Ökonomie, so Engels, »nicht nur in den Grundzügen, sondern auch in den wichtigsten Einzelheiten fertig war. Er [Marx] begann seine ökonomische Studien 1843 in Paris mit den großen Engländern und Franzosen; von den Deutschen kannte er nur Rau und List und hatte genug an ihnen.« Erst 1848 stießen Marx und Engels auf den Gutsherrn, als sie »in der Neuen Rheinischen Zeitung seine Reden als Berliner Abgeordneter und seine Handlungen als Minister zu kritisieren hatten. Wir waren so unwissend, dass wir die rheinischen Abgeordneten befrugen, wer denn dieser Rodbertus sei, der so plötzlich Minister geworden. Aber auch diese wussten nichts von den ökonomischen Schriften Rodbertus‘ zu verraten. Dass dagegen Marx, auch ohne Rodbertus‘ Hilfe, schon damals sehr gut wusste, nicht nur woher, sondern auch wie der Mehrwert des Kapitalisten entspringt, beweisen die ›Misére de la Philosophie‹, 1847 und die 1847 in Brüssel gehaltnen und 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung, Nr. 264-269, veröffentlichten Vorträge über Lohnarbeit und Kapital. Erst durch Lassalle erfuhr Marx gegen 1859, dass es auch einen Ökonomen Rodbertus gebe, und fand dann dessen dritten sozialen Brief auf dem Britischen Museum«, schrieb Engels. Woraus der Mehrwert des Kapitalisten entspringe, habe er in diesem Brief im Wesentlichen ebenso wie Marx gesagt, nur kürzer und klarer, behauptete Rodbertus im Brief Nr. 48, den Marx‘ jüngste Tochter Eleanor vom Ökonomen Rudolf Meyer geschenkt bekommen hatte. Marx zeigte ihn Engels mit der Bemerkung: »Hier habe er endlich Auskunft darüber, was Rodbertus selbst beanspruche; wenn er weiter nichts behaupte, so könne dies ihm, Marx, schon recht sein; und dass Rodbertus seine eigne Darstellung für die kürzre und klarere halte, dies Vergnügen könne er ihm auch lassen. In der Tat«, so Engels, »hielt er durch diesen Brief von Rodbertus die ganze Sache für erledigt.« Marx‘ gelassene Reaktion auf den Vorwurf, er habe bei Rodbertus geplündert, ist inhaltlich begründet. Im Kern drehte sich der Streit um die Mehrwerttheorie. Was sonst hätte Rodbertus bei Marx als sein Eigentum reklamieren können? Die Existenz des Mehrwertes war lange vor Marx bekannt, ebenso, dass er aus Arbeit bestand. Rodbertus übernimmt die Wert- und Mehrwerttheorie Ricardos mit ihren Schwächen und Unfertigem. Ricardo war es nicht gelungen, Ursprung und Natur des Mehrwerts klar zu fassen. Rodbertus reduziert den Mehrwert richtig auf Mehrarbeit. Doch verfällt er wieder in das ökonomische Kauderwelsch, indem er »den Mehrwert mit dem Namen einer seiner verwandelten Unterformen [tauft], den er noch dazu ganz unbestimmt macht: Rente«, sagt Engels. Marx gelang es, aus der Sackgasse herauszufinden, in der seine Vorgänger steckten. Erstens begründete er den Doppelcharakter der Waren produzierenden Arbeit. Aristoteles beschrieb die zwei Seiten der Ware: den Gebrauchswert – die Nützlichkeit – und den Tauschwert. Rodbertus kannte nur eine Art Wert, den Gebrauchswert. Marx nennt dies »Seichtbeutelei«. Er fand es sonderbar, »dass den Ökonomen ohne Ausnahme das Einfache entging, dass wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen muss«. Als konkrete Arbeit schafft sie den Gebrauchswert, als abstrakte Arbeit den Wert der Ware. Marx hat dies seine entscheidende Entdeckung genannt, sprach vom Springpunkt, »um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht«. Adam Smith (1723–1790), Ricardo und auch Rodbertus sahen das »Zwieschlächtige« der Arbeit nicht, kannten nur konkrete Arbeit und stießen so »überall auf Unerklärliches«. Zweitens fand Marx heraus, dass die Arbeitskraft eine Ware ist. Sie hat wie jede Ware einen Wert und einen Gebrauchswert. Jeder konnte sehen, dass der Lohn geringer ist als der Wert der Produkte, die Arbeiter erzeugen. Alle Ökonomen vor Marx schlossen daraus, dass der Profit einem ungleichen Austausch zwischen Kapitalisten und Arbeitern entspringen würde. Der Fehler ist, anzunehmen, der Arbeiter verkaufe die Arbeit als Ware. »Die Frage ist in dieser Fassung unlöslich. Sie ist von Marx richtiggestellt und damit beantwortet worden. Es ist nicht die Arbeit, die als Ware gekauft und verkauft wird, sondern die Arbeitskraft«, so Engels. »Wir mögen uns drehen und wenden, wie wir wollen, wir kommen nicht heraus aus diesem Widerspruch, solange wir vom Kauf und Verkauf der Arbeit und vom Wert der Arbeit sprechen. Der letzte Ausläufer der klassischen Ökonomie, die Ricardosche Schule, ging größtenteils an der Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zugrunde.« Die Arbeit hat keinen Wert, weil sie die Wert bildende Substanz ist. Wie jede Ware wird auch die Ware Arbeitskraft zu ihrem Wert bezahlt. Der Kapitalist »kauft« die Ware Arbeitskraft um ihres Gebrauchswertes wegen – ihrer Fähigkeit, mehr Wert zu schaffen, als sie selbst hat. Marx bewies, was dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen scheint: Der Profit beruht auf dem Prinzip der Gleichheit von Leistung und Gegenleistung. Den Nachweis erbracht zu haben, ist nach Engels das »epochemachendste Verdienst« seines Freundes. Die Kenntnis des Doppelcharakters der Ware Arbeitskraft ermöglichte es Marx drittens, das Wesen des Mehrwertes aufzudecken. Die Ökonomen vor ihm, auch Rodbertus, hatten diesen mit seinen Formen gleichgesetzt. »Im Gegensatz zu aller früheren Ökonomie, die von vornherein besondre Fragmente des Mehrwerts mit ihren fixen Formen von Rente, Profit, Zins als gegeben behandelt, [wird] von mir zunächst die allgemeine Form des Mehrwerts, worin all das sich noch ungeschieden, sozusagen in Lösung befindet, behandelt«, sagt Marx. Wer Profit und Mehrwert gleichsetzt, verschleiert die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Im Profit erscheint der Mehrwert, als habe das Gesamtkapital ihn erzeugt. Dabei entspringt er dem variablen Kapitalteil, ist unbezahlte lebendige Arbeit.
Frank Fehlberg erinnert an Karl Rodbertus-Jagetzow im Band 47 der »Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie«. Der Metropolis-Verlag will mit der verdienstvollen Buchreihe die vergessenen und verdrängten Teile der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft dem Leser wieder zugänglich machen. Fehlberg bringt uns mit Rodbertus einen zu Unrecht vergessenen deutschen Humanisten und Ökonomen nahe, der, wissenschaftlich weit unter Marx stehend, uns noch immer viel zu sagen hat. Seine Intention, »alle Glieder der Gesellschaft möglichst gleichmäßig am Fortschritt der Produktivität teilhaben zu lassen, hat nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüßt«.
Die Zitate im Text stammen aus: Friedrich Engels, Vorwort zum zweiten Band »Das Kapital«, in MEW 24, S. 13-26; Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, in MEW 23, S. 554 f.; Autorenkollektiv, Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1977, S. 487-492, Frank Fehlberg, Arbeitswert und Nachfrage. Zur Sozialökonomik von Karl Rodbertus zur Einführung, Marburg 2017, S. 322, 366.
Klaus Müller ist Wirtschaftswissenschaftler. Er ist externer Lehrbeauftragter für Volkswirtschaftslehre an der Staatlichen Studienakademie Glauchau der Berufsakademie Sachsen und Autor mehrerer Bücher, darunter »Geld – von den Anfängen bis heute« (2015), »Profit« (2016), »Boom und Krise« (2017) und »Lohnarbeit und Arbeitslohn« (2018).