Akademie der bildenden Künste in Wien 1945: Um Albert Paris Gütersloh gruppieren sich die jungen Künstler Rudolf Hausner, Ernst Fuchs, Wolfgang Hutter, Anton Lehmden und Arik Brauer. Alle außer Hausner (1914) um 1929 geboren, eine surrealistische Gruppe, die der Kunstkritiker Johann Muschik »Wiener Schule des Phantastischen Realismus« nannte. Von den Schrecken des Weltkrieges gezeichnet, desillusioniert und skeptisch geworden, wiesen sie als querdenkende Künstler eine neue Überfremdung durch die subjektfeindliche abstrakte Kunst zurück, wichen also vom Mainstream ab. Da wird eine gewisse Parallelität zur sinnbildreichen Kunst in der DDR sichtbar, in deren doppelter Distanzierung vom stalinistisch überformten Sozialistischen Realismus und von der abstrakten Kunst. Die Phantastischen Realisten loteten die Tiefenschichten der Individualität und der Menschheitsgeschichte aus, drangen in die Gedankenwelt der Psychoanalyse ein, studierten außer der Kunst des Surrealismus die Wiener Tradition, den Symbolismus und den Jugendstil, sowie die in Wien befindlichen Werke Boschs, Bruegels, der Donauschule, der Manieristen. Ihr Weg zur Wahrheit war das Phantastische und die »Lust am Schauen«, in der Sigmund Freud ein eigenes psychologisches Phänomen sah.
Von Timna Brauer, der Tochter des Künstlers und Kuratorin der bisher mit 150 Malereien und Zeichnungen größten Personalausstellung von Arik Brauer für die Kunsthalle Erfurt, war zu hören, dass ihr die armselige Wohnung in Paris, in der ihre Familie von 1958 bis 1964 wohnte, groß und weit vorkam, weil es in ihr multikulturell und multilingual zuging. Als Student radelte Erich Brauer bis Nordafrika, entdeckte für sich die orientalische Miniaturmalerei, heiratete in Tel Aviv die jemenitische Naomi, hieß jetzt Arik. Mehrsprachig war schon die Kundschaft seines Vaters, ein Schuhmachermeister in Wien, der als Simche Mosche Segal seine baltische Heimat als Kind verlassen hatte und sich Brauer nannte. Wegen des Anschlusses Österreichs floh er, aber kam in einem Nazi-Lager in Lettland ums Leben, während Erich in Wien versteckt überlebte.
Mit Naomi trat der auch tanzende, schreibende Maler als Gesangsduo auf und wurde in Wien, der richtigen Stadt für Wadlbeißer, ein Begründer des politisch engagierten Austropop und besang mit Hollara den Untergang (»Geburn Für Die Gruabn«), jodelte im Fegefeuer. Gegen die heiteren Melodien stoßen heftig die sarkastischen Texte, analog zu seiner Malerei, wo das Grausige in farbigen Schönheiten erstrahlt und Verfremdung bewirkt.
In der Kunsthalle entsteht im Video vor den Augen der Betrachter unter Brauers Händen, wenige Schritte vom Original entfernt, sein Bild »Papageno«, 2019. Mit nasser, auf der Fläche mit einem Tuch breit geriebener Farbe legt der Maler den dünnen Grund an, lässt die Farbe anziehen, aber nicht trocknen, damit dieser sich mit den aufgemalten Figuren verbindet. Die mit dem Haarpinsel von oben nach unten aufgetragene zarte Lasurfarbe verreibt er mit den Fingern und bildet die Grenzen der Figuren als einen weichen Übergang. Manche Motive leuchten aus dem Farbschleier und zwischen der mit Schwamm, Schaber, Pinsel erzeugten Struktur heraus, werden vertieft und zum Schillern gebracht. Im Feuerwind löst sich Adam in der Struktur des Himmels und der Erde auf; und Moses wird verwandelt als Teil der Erde dargestellt. In dem Versponnensein von Landschaft und Figur drückt sich in emotionaler Bildhaftigkeit aus, dass alles miteinander zusammenhängt.
Die Bilder erzählen von den zu liebenden Frauen und deren Lebensmühsal, wenn in dem auf dem Kopf getragenen Reisigbündel der Ehemann als zusätzliche Erschwernis liegt. Brauer erfindet für das »Futter für alle«, 2014, ein Tischlein-deck-dich, und »Die letzte Pfütze«, 2016, vor Augen fordert der Künstler »Wasserleitungen über den ganzen Globus«. Er bewundert, wie neues Leben auf Totholz wächst. Der abgeschleppte »Zauberstrunk« scheint tot, aber steckt noch voller Leben, das in blaulila Blüten hervorbricht, die vom Bildbetrachter zu sehen sind, nicht aber von den Schleppern. Wie eine Qualle blüht glockenförmig der Atomunfall als eine Medusa Tschernobyl: »Diese von uns gepflanzte Blume ist giftig und blüht ewig«, heißt es bei Arik Brauer. Dem schönen, im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Buch (172 Seiten, 25 €) mit Texten von Timna Brauer, Kai Uwe Schierz und Michael Nungesser sind aufschlussreiche Künstlerkommentare beigefügt. Für die Porträts (Naomi, Fuchs, Hundertwasser) entschuldigt sich Brauer wegen des »Abmalens von der optischen Wirklichkeit«. Doch keiner wird einen »Stilbruch« empfinden, weil sie fantasievoll gemalt und von seiner persönlichen Liebe durchdrungen sind. Oft werden in seiner »Botschaft wichtige realistische Element[e] in die Sphäre des Mythischen rückgebunden«, wie der Museumsdirektor Kai Uwe Schierz formuliert. Oft ins Alte Testament oder in die griechische Mythologie. In drastischen, beinahe karikierenden Bleistiftzeichnungen von 2010 zu Zeus und Europa, Medusa oder Uranos und Kronos zeigt Brauer beim Numinosen den »aggressiv-erotischen Aspekt« (A. B.). Auf festliche Weise würdigt Brauer »Ikarus auf Gold«, 2009, der mit breiten roten Flügeln auffliegt und mit zerflogenen blauen abstürzt. Er ist ein Gedanke, der »der rinnenden Zeit […] ein gutes Stück [vorausfliegt]«, so dichtete Arik Brauer 1973.
Feuerwerke aus warmen Farbtönen zündet Arik Brauer. Berückung und Erstarren bewirkt die Schönheit der aufglühenden Farben und weich verfließenden Formen, die zu zerfetzten Körpern und brennenden Haaren gehören und tief in dieser einzigartigen Verbindung von Phantastisch-Allegorischem mit dem Realen beeindrucken.
Den von deutschen Faschisten erschlagenen jüdischen Vätern setzt Brauer ein Denkmal im erschütterndsten Bild »Mein Vater im Winter«, 1987, welches in einer weiteren, der ersten Jubiläumsausstellung zum 90. Geburtstag Arik Brauers zu sehen ist, im Jüdischen Museum Wien. Dass Arik Brauer noch im Alter von 90 an seinen Bildern arbeitet, erklärt sich wohl daher, dass er die Lust am Schaffen verspürt sowie zu Naomi die »Liebe im Alter«, 2019, ein Ehepaar wie Philemon und Baucis unter herbstlichen Bäumen.
Bis 27. Oktober, Kunsthalle Erfurt, Fischmarkt 7, 99084 Erfurt, Di–So 11–18, Do 11–22 Uhr