Die koloniale Erinnerung und die Historie
Als Wissenschaftler, der sich Zeit seines Berufslebens mit der Geschichte des Kolonialismus beschäftigt hat, erfüllt mich eine gewisse Genugtuung, dass aktuell der Diskurs über die deutsche koloniale Vergangenheit in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheint. Allerorten gibt es Diskussionen und zuweilen auch daraus entstandene praktische Schlussfolgerungen. Kolonialherrschaft war immer Unrecht, tief rassistisch; sie basierte zumeist auf Gewalt und Ausbeutung. Wenn sich Menschen dagegen wenden und aufklärerisch wirken wollen, kann man das nur begrüßen. Denn auch Deutschland hat seine Spuren als Kolonialmacht von 1884/85 bis 1918/19 in Afrika, in China und in der Südsee hinterlassen.
Auffallend dabei ist, dass die kolonialen Erinnerungen nicht nur bei linken politischen Kräften für Debatten sorgen, sondern dass die kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und seinen Folgen auch im bürgerlichen bis konservativen Lager angekommen ist. Die mannigfaltigen Diskussionen in der Presse und die Vielzahl von hierzu geschriebenen Büchern jüngeren Datums zeugen davon.
Nur in einem Fall vergessen die Kolonialkritiker in Deutschland – aber vermutlich nicht nur hier – anscheinend, dass die Zeit der Verherrlichung oder verbalen Verteidigung des Kolonialismus vorbei ist. Nicht bei der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte, wie einige meinen, existiert in der deutschen Gesellschaft eine Amnesie, sondern diese herrscht bei der Aufarbeitung der Zeit, die der direkten Kolonialherrschaft folgte und häufig als Neokolonialismus bezeichnet wird. Denn die kolonialen Strukturen aus dem Zeitalter der direkten Kolonialherrschaft sind bis heute in den verschiedensten Formen an vielen Stellen noch vorhanden und bringen trotz des Getöses über Entwicklungshilfe kaum ökonomischen Fortschritt für die ehemals kolonisierten Völker. Bekanntlich profitieren davon – neben einigen korrupten Politikern in Afrika – die Bewohner Europas und die der meisten Länder des globalen Nordens. Wie man das nachhaltig ändern könnte, wird kaum in den postkolonialen Diskursen thematisiert.
Selektive Erinnerungen
Blicken wir einmal weg vom afrikanischen Kontinent – an den wohl jeder zuerst denkt, wenn er den Begriff Kolonialismus hört. Asien gehörte ebenfalls zu den ehemals von europäischen Staaten kolonisierten Regionen. Im Prozess der Dekolonisation haben sie sich im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts mit unterschiedlichen Formen und Methoden den Weg in die Freiheit erkämpft. Und zu unterschiedlichen Zeiten.
Zu den letzten Kolonialgebieten Europas in Asien gehörte Hongkong. Während des ersten Opiumkrieges 1841 wurde die Stadt von den Briten besetzt und zur Kronkolonie gemacht, selbstverständlich ohne Zustimmung der einheimischen Bevölkerung. In China wird jene Zeit als das »Jahrhundert der Erniedrigung« bezeichnet. Als eines der letzten Kolonialgebiete gelang es nach langwierigen Debatten mit der chinesischen Staatsführung, im Jahre 1997 Hongkong an die Volksrepublik China zu übergeben. Das war ein diplomatisch ausgehandelter schwieriger Weg, um Gerechtigkeit herzustellen.
Manche hiesige Debattierer wollen dies nicht verstehen. Dabei brauchte man nur die Frage zu stellen, wie Großbritannien und/oder die anderen Kolonialmächte wohl reagiert hätten, wenn in der Hochzeit des Kolonialismus chinesische Schiffe vor den englischen Inseln aufgetaucht wären und die Herausgabe eines der Eilande erzwungen hätten.
Seit 1997 ist die heute etwa 7,5 Millionen Einwohner, davon 96 Prozent Chinesen, zählende, etwa 1,1 Quadratkilometer große Stadt Hongkong eine chinesische Sonderverwaltungszone unter Beibehaltung einer »freien Marktwirtschaft« und weitgehender innerer Autonomie, jedenfalls für mindestens 50 Jahre – seit Vertragsbeginn! Das war eine besondere Form der Abgabe eines kolonialen Gebietes im Dekolonisierungsprozess durch die größte europäische Kolonialmacht.
Zu Protesten von Teilen der Hongkonger Bevölkerung kam es in den letzten Monaten nach dem Beschluss der chinesischen Regierung in Peking, ein Sicherheitsgesetz für Hongkong zu verabschieden. Schon im vergangenen Jahr hatte es Demonstrationen gegeben, die jedoch durch die Corona-Krise vorübergehend eingedämmt worden waren und nun wieder aufflammten. Das in Peking verabschiedete Gesetz soll »Separatismus« und »Aufruhr« in der Sonderverwaltungszone bekämpfen. Notwendig sei dies geworden, so heißt es vom Außenministerium in Peking, weil Proteste und Krawalle im vergangenen Jahr »Chinas nationale Sicherheit ernsthaft gefährdet« hätten.
Das wird von US-Präsident Trump bestritten, denn er ist bekanntlich immer bestens informiert. Dieses Mal folgen ihm – endlich einmal wieder in Vasallentreue – die NATO-Verbündeten.
In jeder ehemaligen europäischen Kolonie, die die nationale Unabhängigkeit errang, gab es Bewohner, die aus den verschiedensten Gründen den abziehenden Kolonialherren nachtrauerten. Denn es gab einheimische Profiteure, vornehmlich aus den Eliten, die ihre Herrschaft durch die koloniale Macht hatten absichern lassen, und so manch andere, die, aus welchen Gründen auch immer, sich den europäischen Kolonialherren angedient hatten.
So ist es auch in Hongkong. Diejenigen, die von der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien begünstigt waren oder durch deren Unterstützung zum Bestandteil der internationalen Hochfinanz wurden, mit all ihren Helfern, Profiteuren, Claqueuren, Teilhabern an den gewaltigen Finanzgeschäften, haben natürlich Angst vor der ablaufenden Zeit des Übergangsstatus als sogenannte Sonderverwaltungszone. Selbstverständlich geht kaum jemand von den »gesitteten« älteren Hongkonger Bürgern auf die Straße, um zu demonstrieren. Den Krawall bis hin zu Angriffen auf Polizisten, Plünderungen, Straßenblockaden, unangemeldeten Demonstrationen (die in wohl fast allen Ländern verboten sind) bis hin zu offener Gewalt übernehmen junge Leute, die es sich vermutlich mithilfe der Finanzkraft ihrer Eltern bisher erlauben konnten, in der Stadt mit den weltweit höchsten Lebenshaltungskosten nicht schlecht zu leben. Durch die neue Gesetzgebung der Pekinger Zentralregierung sehen sie ihre Privilegien gegenüber der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung in Gefahr, denn im Jahre 2047 laufen die Übergangsregelungen, die unter anderem eine eigene Justiz und ein relativ autonomes Handeln nach innen ermöglichten, aus. Die bisher Privilegierten bekommen, ob berechtigt oder nicht, soziale Ängste.
Deutsche Politiker für koloniale Verhältnisse
In der deutschen Presse und im Fernsehen werden die Randalierer – die alte koloniale Strukturen erhalten wollen – »Menschenrechtsverteidiger« und »Pro-Demokraten« genannt. Sie sind also keine Demokraten, sondern nur »pro«, also »für« Demokratie. Belege dafür werden nicht geboten. Die Zeitung Die Welt meinte zu wissen, dass in Hongkong Westberlin vor dem Mauerfall erkannt werden könne (Klaus Geiger: »Hongkong geht uns nichts an? Hongkong ist West-Berlin«, in: Die Welt, 25.5.2020). Meinen die Redakteure ernsthaft, dass China dem Wirtschaftssystem Hongkongs angeschlossen werden sollte, wie die DDR vor dreißig Jahren demjenigen Westberlins (und der Bundesrepublik)?
Das Ziel der »pro-demokratischen« Kräfte ist vordergründig eine Autonomie, also eine Forderung, die gegenüber der abziehenden britischen Kolonialmacht nur temporär zugesagt worden ist. Die Protestierer stellen also eindeutig die völkerrechtlich vereinbarten Regelungen infrage, letztlich im Interesse der ehemaligen Kolonialmacht und ihrer Verbündeten in NATO, EU und G7-Gruppe.
Dass Peking angesichts dieser Entwicklung Gegenmaßnahmen ergreift, sollte nicht verwundern. Zum postkolonialen Zeitalter gehört auch ein gewachsenes Bewusstsein der eigenen Kraft. Die Europäer – die jahrzehntelang das chinesische Volk unterdrückt haben – wären gut beraten, wenn sie die territoriale Integrität Chinas, wozu auch Hongkong gehört, anerkennen würden. China ist eine der wenigen ehemaligen europäischen Kolonien, die über die Mittel verfügen, entsprechende Angriffe hierauf abzuwehren. Nicht unberechtigt warnte kürzlich der chinesische Außenminister Wang Yi angesichts der neokolonialen Haltungen und Äußerungen von Politikern derjenigen westeuropäischen Staaten, die sein Land vormals ausgebeutet und unterdrückt hatten, sowie der USA, die China im 19. Jahrhundert als Halbkolonie betrachteten und Soldaten dorthin schickten, vor der Gefahr eines neuen Kalten Krieges.
In alter kolonialer Manier kritisieren gegenwärtige EU-Politiker wie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament David McAllister (CDU) oder der grüne Europa-Abgeordnete Reinhard Bütikofer die Politik Pekings. Auch die alte Kolonialmacht Frankreich sieht in dem neuen Gesetz eine »Bedrohung der internationalen Ordnung«.
Was würden diese Politiker wohl sagen, wenn sich chinesische Parlamentarier darüber echauffierten, was in Europa, in Deutschland passiert – etwa die Ungleichbehandlung eines Bevölkerungsteils, nämlich der Ostdeutschen, gegenüber der Bevölkerungsmajorität, den Westdeutschen. Und die Chinesen hätten nicht einmal die Last einer kolonialen Vergangenheit mit sich herumzuschleppen.
Wo bleibt der Aufschrei der Postkolonialisten?